«Kein Blick zurück im Zorn»
Nach 44 Jahren im Dienst der Post nimmt Urs Schibli, Filialleiter der Poststelle in Einsiedeln, Abschied
Als Briefträger fürchtete er sich vor bissigen Hunden in Alpthal und Willerzell und freute sich, wenn er von Senioren in die Stube zum Kaffee eingeladen wurde: Der 62-jährige Einsiedler Filialleiter Urs Schibli hat so manche Geschichten in seiner ausserordentlich langen Laufbahn bei der Post erlebt.
MAGNUS LEIBUNDGUT
Wie ergeht es Ihnen an Ihrem letzten Arbeitstag nach 44 Jahren im Dienste der Post beziehungsweise der PTT, wie sie damals noch geheissen hat? Mir geht es gut. Es ist natürlich speziell, fast ein halbes Jahrhundert bei demselben Arbeitgeber verbracht zu haben. Mir hat die Arbeit immer sehr gefallen. Sie war interessant und von vielen Veränderungen geprägt.
In welchen Stationen waren Sie bei der Post beschäftigt? Die Postbürolehre habe ich in Lachen absolviert. Via Einsiedeln bin ich dann für zehn Jahre in Rapperswil gelandet, wo ich auch eine Weiterbildung in Angriff genommen habe. Ich war als Posthalter, als Kundenberater hinter dem Schalter und in der Zustellung tätig. Letzteres bedeutete, dass ich in kleineren Ortschaften wie Alpthal und Willerzell auch als Briefträger zum Einsatz kam. Hätten Sie gerne weitergearbeitet in der Postfiliale Einsiedeln? Ich wäre durchaus gerne bei der Post geblieben, hätte aber wohl meinen Arbeitsort in Einsiedeln verlassen und an einem anderen Ort arbeiten müssen. Mit einem Arbeitsweg von bis zu einer Stunde. Möglicherweise wäre ich als Kundenberater zum Einsatz gekommen. Da zog ich es vor, im Alter von 62 Jahren in die Pension zu gehen.
Kein Blick zurück im Zorn? Immerhin gehen Sie überraschend früh in Pension. Es ist kein Blick zurück in Zorn. Immerhin hat die Post mir ja ein gutes Angebot gemacht für eine Frühpensionierung. Dass sich Mitarbeiter neu bewerben müssen, betrifft alle Kaderleute. Das hat mit einer Umstrukturierung bei der Post zu tun. Filialleiter werden durch Leiter Teams ersetzt. Einsiedeln und Schindellegi gehören neu zusammen in einem gemeinsamen Team. Wir haben von dieser Umstrukturierung gewusst: Sie wurde von den Gewerkschaften vorbereitet und begleitet. Wie hat sich die Postfiliale Einsiedeln in den letzten 44 Jahren verändert? Früher wurden in Einsiedeln hier auf der Postfiliale die Briefe noch von Hand sortiert und versendet. Auch die Brief- und Paketzustellung war bei uns im Haus. Längst geht die Zustellung der Briefe an der Umfahrungsstrasse über die Bühne, und die Pakete werden von Wädenswil angeliefert. Die Abtrennung hat naturgemäss die Arbeit hier vor Ort massgeblich verändert. Einerseits macht eine Zentralisierung Sinn, andererseits sind die Wege dadurch länger geworden.
Ist eine Folge davon, dass Zeitungen neuerdings am Nachmittag statt am Vormittag ausgetragen werden?
Früher, in den 70er-Jahren, kam der Briefträger gar zwei Mal am Tag. Später dann hat man das Ganze so geregelt, dass bis um 13 Uhr die Post verteilt werden musste. Dies ist aber schon lange nicht mehr so. Wegen des Coronavirus gibt es aktuell zwei Staffeln, in denen die Briefträger auf die Tour gehen. Bei der späteren Staffel kann es dann vorkommen, dass der Einsiedler Anzeiger erst am Nachmittag ausgeliefert wird.
Gibt es noch Telegramme, Telefax, Teletext und Briefmarken?
Briefmarken gibt es immer noch auf der Postfiliale zu kaufen, obwohl E-Mails die Briefe immer mehr verdrängen. Es ist ein Wunder, dass es den Fax noch immer gibt. Telegramme gibt es schon lange nicht mehr. Ich kann mich erinnern, wie wir bei Ablösungen in kleineren Filialen, samstags nach der Schliessung jeweils vierzig bis fünfzig Hochzeits-Telegramme abtippen mussten. Der Telext ist unterdessen ins Fernsehen abgewandert: Es gab damals noch ein System, ähnlich wie der Teletext, mit dem man Einzahlungen machen konnte. Das hielt sich aber nicht lange.
Ist es ein Wunder, dass es überhaupt noch eine Post in Einsiedeln gibt?
Ein Wunder ist es nicht gerade, denn immerhin ist Einsiedeln Hauptort des Bezirkes. In Unter-und Oberiberg sind die Poststellen längst in Läden ausquartiert worden oder man bietet in den Vierteln und Alpthal einen Hausservice an, in dem der Briefträger gewisse Dienste anbietet. Dass Postfilialen landesweit von einer Schliessung bedroht sind, hat vor allem mit der Digitalisierung zu tun. Wurde Ihre Postfiliale jemals überfallen in den letzten 44 Jahren? Es wurde einmal in den 90er-Jahren in Einsiedeln ein Geldbote der Post überfallen. Direkt am Schalter gab es keine Überfälle. Hin und wieder ist Falschgeld am Schalter aufgetaucht. Aber das waren keine Einsiedler, die bewusst Falschgeld umsetzen wollten, um ihre Rechnungen zu bezahlen (lacht). Vielmehr ging das unbewusst über die Bühne.
Machte es aus Ihrer Sicht Sinn, die damalige PTT in einzelne Unternehmen zu zerschlagen? Das Telefonwesen machte damals viel Gewinn. So kam es zu einer Quersubventionierung von Bereichen wie die Post oder das Postauto, die Defizite schrieben. Unterdessen ist auch für Postfinance das Umfeld schwieriger geworden. Der Bundesrat will nun der Postfinance Hypothekar- und Kreditgeschäfte erlauben, was ich eine gute Sache finde.
Kommt es in der Postfiliale Einsiedeln nun zu einem Arbeitsplatzabbau?
Nein, nur Kaderleute müssen sich neu bewerben und teils an anderen Orten arbeiten. Keiner konnte im gleichen Team bleiben. Die Kundenberater hinter den Schaltern müssen eventuell in Schindellegi Einsatz leisten, weil eben Einsiedeln und Schindellegi neu ein gemeinsames Team bilden. Die Mitarbeiter erhalten mit Alessandra Bernet eine neue Chefin. Wie ist denn die Stimmung derzeit in Ihrem Team? Die Begeisterung hält sich noch in Grenzen. Wie immer, wenn etwas Neues kommt, verhält man sich erst einmal vorsichtig und zurückhaltend. Umstrukturierungen sind an der Tagesordnung. Mal kommen in den Postfilialen Papeteriewaren und andere Drittprodukte in den Verkauf, dann verschwinden diese wieder. Die Digitalisierung setzt die Mitarbeiter zusätzlich unter Druck. Welche Höhe- und Tiefpunkte haben Sie in den letzten 44 Jahren erlebt?
Tiefpunkt waren die bissigen Hunde, auf die ich als Briefträger in Willerzell und Alpthal mitunter traf. Denen begegnete ich selbstredend mit viel Respekt. Das hat sich aber verbessert in der letzten Zeit. Es gilt ja die Leinenpflicht für Hunde im Kanton Schwyz. Zu berührenden Begegnungen kam es damals, als ich noch den Rentnern die AHV-Gelder überbringen durfte. Der Briefträger war damals auch noch für soziale Kontakte zuständig. Da hatte man auch noch Zeit, um ein paar Worte auszutauschen. Hin und wieder wurde ich gar zu einem Kaffee in die Stube eingeladen (lacht).
Heutzutage mag das kaum mehr vorkommen, dass ein Mitarbeiter 44 Jahre beim gleichen Arbeitgeber bleiben kann: Sind Sie der letzte Mensch auf Erden, dem dieses Schicksal überlassen ist? Eine Monopol-Ausbildung bei der Post bedeutete, dass ein Wechsel in die Privatwirtschaft kein einfaches Unterfangen war. Sich zu verändern und zu entwickeln war nur intern in der PTT möglich. Es gab damals noch den Beamtenstatus. Damit verbunden war eine Lebensstelle: Diese blieb einem eben ein Leben lang erhalten und war nicht gefährdet. Es gab damals auch noch spezifische Geografie- Kenntnisse, die es im Briefversand oder bei der Bahnpost brauchte. Das ist längst vorbei. Heute wird diese Arbeit zentralisiert von Maschinen erledigt. Alle diese Entwicklungen sorgen dafür, dass heutzutage kaum mehr jemand sein ganzes Arbeitsleben bei demselben Unternehmen verbringt. Wie wird sich die Post in der nächsten Zeit weiter entwickeln?
Der Druck auf die Post mit der Digitalisierung wird weiter zunehmen. Die Briefpost wird noch mehr an Terrain verlieren. Dafür profitiert die Paketpost von der Entwicklung, dass immer mehr Waren online bestellt werden. In der Corona-Krise hatten wir Phasen, in denen mehr Pakete verschickt wurden als an Weihnachten.
Freuen Sie sich auf Ihre Pension?
Ja! Mir wird nicht langweilig. Ich habe Zeit, mich wieder mit der Imkerei, der Gartenarbeit sowie meinen beiden Hunde zu widmen. Zudem besuche ich mit meiner Frau sehr gerne Flohmärkte. Ich werde dementsprechend kaum in ein Loch fallen, auch wenn meine Arbeit in der Postfiliale Einsiedeln ein Ende findet.
Wohin bewegt sich die Welt? Das ist schwierig zu sagen. Das einzig Gute an der Corona-Krise war: Sie hat für eine Entschleunigung unseres Lebens gesorgt. Einfach einmal tief durchatmen und zur Ruhe kommen, ist wichtig und wertvoll. Die Welt dreht sich rasch und unentwegt: Sie wird von einem steten Wandel und Wechsel getrieben. Die Welt einmal anhalten zu können, tut gut.
«Bei der späteren Staffel kann es vorkommen, dass der Einsiedler Anzeiger erst am Nachmittag ausgeliefert wird.» «Es gab damals noch den Beamtenstatus. Damit verbunden war eine Lebensstelle.» «Zu berührenden Begegnungen kam es, als ich den Rentnern die AHV-Gelder überbringen durfte.» «Das einzig Gute an der Corona-Krise war: Sie hat für eine Entschleunigung unseres Lebens gesorgt.» «Die Welt dreht sich rasch und unentwegt. Sie einmal anhalten zu können, tut gut.»
Ein Abschied nach 44 Jahren im Dienste der Post: Filialleiter Urs Schibli an seinem letzten Arbeitstag in seinem Büro in der Post Einsiedeln. Foto: Magnus Leibundgut