«Ich ziehe schweren Herzens von Einsiedeln nach Zürich»
Ugo Rossi, 47-jähriger Vikar in der Pfarrei Einsiedeln, zieht es vom Klosterdorf in die Limmatstadt: «Ich möchte gerne meine Arbeit auf der Gasse intensivieren. Ich entscheide mich nicht gegen die Pfarrei, sondern für eine Tätigkeit, die mich noch viel mehr erfüllt.»
MAGNUS LEIBUNDGUT
Ist Gassenarbeit spannender als Pfarreiarbeit?
Ich würde vor allem sagen, sie ist anders. Pfarreiarbeit kenne ich seit über zwanzig Jahren. Da empfinde ich naturgemäss Gassenarbeit als spannender, weil sie neu ist für mich. Gassenarbeit erlebe ich als eine dringlichere und buntere Arbeit: Toll ist an dieser Arbeit, dass man automatisch in regem und unmittelbarem Kontakt mit Menschen kommt. Und sie verursacht für mich im Moment kaum administrative Arbeit.
Lässt Sie der Bischof nach zwei Jahren Mitarbeit in der Pfarrei Einsiedeln einfach so ziehen? Bischof Joseph Maria Bonnemain steht aufgrund des überhandnehmenden Priestermangels an sich unter grossem Druck. Deshalb möchte er nicht, dass ich ganz aus der Pfarreiarbeit aussteige. Allerdings fehlen auch in der Stadt Zürich Pfarrer und Vikare. Und so werde ich in einer Zürcher Pfarrei ein 50-Prozent- Pensum übernehmen. Die Gassenarbeit übe ich fürs Erste weiterhin ehrenamtlich aus. Möglicherweise ergibt sich zukünftig ein kleines Pensum beim Verein Incontro, dem Trägerverein der Gassenarbeit, bei dem ich bereits jetzt im Leitungsgremium tätig bin. Ich muss schauen, dass ich auch finanziell über die Runde komme. Die Kirche soll sich wieder zu den Menschen bewegen: Ist dies auch im Sinne des Bischofs?
Das ist nicht nur im Sinne von Bischof Joseph Maria, sondern auch von Papst Franziskus. Die Kirche muss sich dringend wieder zu den Menschen hin bewegen – in der Nachfolge von Jesus Christus, der ja auch zu den Armen, Ausgestossenen, Kranken und Prostituierten gegangen ist. Welche Tätigkeiten stehen bei Ihrer zukünftigen Arbeit in Zürich im Zentrum?
Als Freiwilliger ist man manchmal vollauf mit der Essensabgabe an der Abgabestelle beschäftigt. Da bleibt kaum Zeit und Raum übrig, um mit Betroffenen ein tieferes Gespräch zu führen. Doch die Regelmässigkeit der Kontakte schafft schon viel Vertrautheit. Mit einem zeitlich grösseren Engagement wird es möglich sein, den Menschen auch vermehrt in unserem Lokal, dem Primero, zu begegnen. Dort ist oft mehr Raum auch für seelsorgerliche Gespräche und auch für Beichtgespräche. Doch auch auf der Gasse nehmen uns die Menschen nicht nur als Sozialarbeiter wahr, sondern durchaus auch als Seelsorgende. Konzentriert sich Ihre Arbeit auf soziale Tätigkeiten? Naturgemäss stehen soziale Tätigkeiten im Vordergrund. Zum Beispiel, wenn wir Prostituierten helfen, wenn diese aussteigen wollen. Währenddem das Sozialamt Betroffene als Klienten bezeichnen, sind diese für uns Freunde: Wir begegnen den Menschen auf Augenhöhe, als Brüder und Schwestern. Wir begleiten sie und helfen ihnen – aus einer Freundschaft heraus. Soziale Tätigkeit und Seelsorge gehen miteinander einher.
Welche Bedeutung kommt einer Neuevangelisierung in Ihrer Arbeit zu? Längst leben wir in säkularisierten Zeiten des Wohlstands, in denen das Evangelium verloren gegangen ist. Wir haben Wohlstand – wofür braucht es da noch einen Gott? Das Evangelium soll neu vermittelt werden, in dem wir es leben und verkünden. Dass Kinder und Jugendliche zum Beispiel kaum mehr in Kontakt mit dem Evangelium kommen, hat viel mit den Familien zu tun, in denen der Glauben an die Frohe Botschaft verdunstet ist.
Haben Sie neben der Essensabgabe überhaupt die Möglichkeit, den Prostituierten und Drogensüchtigen die Frohe Botschaft zu verkünden? Ja, mit Tat und Wort. Das Evangelium gilt es nicht nur zu verkünden, sondern auch leibhaftig und wahrhaftig zu leben. Ich mag mich an die Begegnung mit einem seelisch verwundeten Mann in der Silvesternacht erinnern, der in die Nacht hinaus seine unbändige Wut geschrien hat. Als Seelsorger gilt es nichts anderes, als diesem Mann beizustehen, für ihn da zu sein, ihm zuzuhören. Abgesehen davon: Die Essensabgabe an einem verregneten, kalten Abend ist schlicht und einfach harte Knochenarbeit. Das verlangt viel Hingabe und Ausdauer. Würden Sie sich mit Franziskanerbrüdern wie Leonard oder Benno vergleichen wollen, die während vielen Jahren Gassenarbeit in Zürich gemacht ha-ben?
Ich ziehe nicht gerne Vergleiche. Aber ja, ihre Arbeit war ähnlich der unsrigen. Allerdings bin ich weniger ein Ordensmensch und habe nicht vor, in eine Klostergemeinschaft einzutreten. Ich sehe meinen Platz vielmehr draussen in der Welt. Doch der Mensch ist an sich nicht für die Einsamkeit geschaffen. Was ich mir deshalb durchaus vorstellen könnte, wäre, in einer priesterlichen Wohngemeinschaft in Zürich zu leben. Auch darüber bin ich mit der Bistumsleitung im Gespräch. Im vergangenen Jahr haben Sie bereits Gassenarbeit in Zürich als Freiwilliger geleistet. Wird zukünftig das Bistum oder die Zürcher Kantonalkirche Ihre Arbeit auf der Gasse finanzieren? Unsere Gassenarbeit wird durch den Verein Incontro getragen und finanziert. Dieser Verein ist unabhängig und soll auch so bleiben. Er finanziert sich über private Spenden. Das gibt auch Kirchgemeinden und anderen kirchlichen Körperschaften die Möglichkeit, einen Beitrag zu leisen. Es kommt hinzu, dass das Bistum ja kaum gross über Finanzen verfügt. Der Stadtverband, der Zusammenschluss der Stadtzürcher Pfarreien, unterstützt punktuell unsere Arbeit. Eine komplette Finanzierung der Gassenarbeit zum Beispiel durch die Kantonalkirche würde unsere Unabhängigkeit mindern. Wir wollen keine Beamte werden, sondern Streetworker bleiben. Werden Sie sich Schwester Ariane und dem Verein Incontro anschliessen? Der Verein Incontro wurde bereits im Jahr 2001 von Schwester Ariane Stocklin gegründet. Zusammen mit dem Pfarrer Karl Wolf von Küsnacht ZH steht sie dem Verein vor. Die Aktion «Broken Bread Take Away» ist gewissermassen der Ursprung unserer Arbeit. Es gibt diese Aktion bereits seit dem Jahr 2017, in dem Schwester Ariane, eine gottgeweihte Jungfrau, und Pfarrer Karl Wolf begonnen haben, auf der Langstrasse in Zürich Lunchpakete an Bedürftige zu verteilen. Zusammen mit ihr und Pfarrer Karl Wolf werde ich weiterhin die Einsätze bei der Essensabgabe leiten aber auch im Lokal Primero präsent sein.
Hat sich die Situation der Bedürftigen in Zürich unterdessen verändert? Auf dem Höhepunkt der Corona- Krise und der folgenden Arbeitslosigkeit haben wir im Herbst und Winter 2020/2021 täglich bis zu 400 warme Mahlzeiten an Bedürftige im Langstrassenquartier verteilt. Jetzt hat sich die Situation etwas verbessert: Einige haben wieder Arbeit gefunden. Unterdessen verteilen wir etwa noch 250 Mahlzeiten täglich. Die Corona-Krise ist allerdings nicht vorbei – und erst recht nicht die Not der Menschen. Wir bleiben bei den Menschen auf der Gasse und bieten ihnen weiterhin materielle Hilfe in Form von Essen und geistliche, spirituelle und menschliche Unterstützung. Wie kann es sein, dass in unserem reichen Land die Armut dermassen überhandnimmt? Niemand muss verhungern in der Schweiz. Aber viele fliegen durch die Maschen. Sans Papiers und abgewiesene Asylbewerber können sich nicht beim Sozialamt anmelden. Dann gibt es Working Poor oder Senioren, denen der Lohn und die Rente nicht zum Leben ausreichen. Sie wollen vielleicht ihre Freiheit nicht aufgeben und scheuen den Gang auf das Sozialamt, weil die-ser oftmals mit viel Spannungen einhergeht. Womöglich haben sie schlechte Erfahrungen gemacht mit Ämtern, Beiständen oder Hilfswerken. Es gibt auch im Klosterdorf Menschen, die in Not und Elend leben: Wer sorgt sich um diese? In einer Dorfgemeinschaft, in der jeder jeden kennt, ist Armut viel weniger sichtbar als in einer Stadt, in der es anonymer zuund hergeht. Die Hemmschwelle ist grösser, sich als Bedürftiger zu outen und Hilfe zu holen. Allerdings gibt es auch in Einsiedeln Armut. Davon zeugt die Aktion «Tischlein deck dich», die Lebensmittel an Bedürftige abgibt. Immer wieder suchen Bedürftige Hilfe direkt bei der Pfarrei Einsiedeln oder bei der Diakoniestelle des Dekanates Ausserschwyz in Pfäffikon.
Ihr Abgang wiegt schwer. Was macht die Pfarrei Einsiedeln nur, wenn sie keinen Ersatz für Sie finden mag? Ich ziehe schweren Herzens von Einsiedeln nach Zürich. Ich möchte gerne meine Arbeit auf der Gasse intensivieren. Ich entscheide mich nicht gegen die Pfarrei, sondern für eine Tätigkeit, die mich noch viel mehr erfüllt. Der Weggang war keine einfache Entscheidung – zumal ich als Mensch ein Gewohnheitstier bin, der sich mit Veränderungen eher schwer tut. Doch schliesslich hatte ich gar keine andere Wahl: Ich muss meiner Berufung folgen. Dies ist in erster Linie eine Sache des Rufes, weniger meines eigenen Willens. Damit die Pfarrei Einsiedeln etwas mehr Zeit hat, einen Nachfolger für mich zu finden, habe ich bereits ein halbes Jahr vor meinem letzten Arbeitstag gekündigt.
«Broken Bread Take Away»: Ugo Rossi führt die freiwilligen Helfer auf ihrer Tour durch die Langstrasse in Zürich an. Fotos: Magnus Leibundgut
Der Pfarrer Ugo Rossi stammt aus dem Puschlav und ist im Jahr 2020 von Goldau nach Einsiedeln gewechselt: «Nun breche ich auf zu neuen Ufern auf der Gasse in Zürich.» «Die Kirche muss sich dringend wieder zu den Menschen hin bewegen – in der Nachfolge Jesu.» «In einer Dorfgemeinschaft ist Armut viel weniger sichtbar als in einer anonymen Stadt.»