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«Verstehen kann man das Leben oft nur rückwärts»

«Verstehen kann man das Leben oft nur rückwärts» «Verstehen kann man das Leben oft nur rückwärts»

In ihrem Werk «Eibenland» streift Pia Strub durch ihre Vergangenheit im Ybrig, lässt eintauchen in längst vergessene Zeiten: Die 81-jährige Autorin nimmt die Leserschaft mit durch die Geschichte einer Grossfamilie mit ihren Freuden und Leiden in einem Bergdorf zur Zeit des Zweiten Weltkriegs.

Wo liegt das Eibenland verborgen?

Mit Eibenland ist die Region Yberg gemeint, die zwischen Sihlsee und Ibergeregg gelegen ist und aus geschichtlich bewegten Gründen nicht zum nähergelegenen Einsiedeln gehört, sondern zum Bezirk Schwyz. Dass in früheren Zeiten viele Eiben im Yberg gestanden sind, kommt in den Wappen der Gemeinden Unteriberg und Oberiberg zum Ausdruck: Das Wappenbild stellt eine stilisierte Eibe mit roten Früchten auf einem grünen Dreiberg dar. Der Nadelbaum war früher sehr geschätzt wegen seines zähen Holzes, das man für die Herstellung von Waffen benötigte. Die Eibe ist sowohl eine Gift- wie auch eine Medizinpflanze. Dass man viele Eiben gerodet hat, mag dem Umstand geschuldet sein, dass Bauern dank der Rodung Weideland geschaffen haben. Zudem sind Kühe gestorben, wenn sie giftige Eibenzweige und -nadeln gefressen haben.

Sie widmen «Eibenland» den Abertausenden, die ihre Heimat aus Not verlassen mussten oder müssen. Sind Sie auch aus Ihrer Heimat geflüchtet? Ich bin als vierte Tochter einer Hotelierfamilie in Oberiberg aufgewachsen. Dass ich das Buch «Eibenland» den Flüchtlingen gewidmet habe, die ihre Heimat aus Not verlassen mussten, hat mit der Zeit des Zweiten Weltkrieges zu tun, von der das Buch handelt. Und auch heute noch – oder erst recht – müssen Menschen vor Krieg, bewaffneten Konflikten und Gewalt aus ihrer Heimat flüchten. Meine Familie musste natürlich nicht aus dem Ybrig flüchten. Mein Leben weist jedoch verschiedene Wohnorte mit verschiedenen Zeitspannen auf wegen Ausbildung, Familiengründung und anderem.

Welche Erinnerungen haben Sie bezüglich Ihrer Heimat?

Ich habe wenig Erinnerungen an meine ersten fünf Lebensjahre. Vielfach stütze ich mich auf Fotobücher aus jener Zeit ab und aus Gesprächen über diese Zeit.

Was bedeutet für Sie Heimat?

Heimat ist dort, wo man seine Wurzeln hat und wo man sich wohl und geborgen fühlt. Heimat bedeutet für mich sowohl dieser äussere Ort und seine Menschen als auch innere Geborgenheit, Halt und Vertrauen.

Längst leben Sie nicht mehr im Ybrig. Haben Sie in der Au am Zürichsee eine neue Heimat fin-den können?

Ich fühle mich in der Au relativ wohl. Da unsere Eltern uns Töchtern eine gute Ausbildung ermöglichen wollten, mussten wir alle relativ früh von zu Hause fort in Internate, da der Kanton Schwyz damals nur dort Gelegenheit für Mädchenausbildung nach der Primarschule bot. Ich habe die Matura in Freiburg gemacht und dann in Zürich Pharmazie studiert. Ich bin Familienfrau geworden und habe einmal wöchentlich in Apotheken den Chef oder die Chefin vertreten. Später habe ich noch einen Abschluss in Journalistik an der SAL und erst mit sechzig Jahren ein Diplom als Kunsttherapeutin unternommen.

Sie widmen Ihr zweites Werk nach Ihrem ersten in Ybriger Dialekt geschriebenen Gedichtband «looslaa» Ihrer Familie. Ist das Buch autobiographisch zu verstehen? Es ist eine Mischung aus Facts and Figures: Die eine Hälfte der Geschichten entspricht der Wirklichkeit, die andere ist erfunden und erdichtet. Bei der Rahmenhandlung, die sich um die Zeit des Zweiten Weltkrieges dreht, stimmen alle Daten präzise: Da ist alles genau recherchiert.

Wovon handeln die Geschichten?

Die Geschichten drehen sich um die Hochzeit meiner Eltern, die Generalmobilmachung am 1. September 1939, ein Leben ohne Pass, die Hotelterrasse, Waschküchenlieder, den längsten Tag (6. Juni 1944, Invasion der Westalliierten in der Normandie), die Fasnacht 1946, den ersten Schultag und Gevatter Tod – und um vieles Weitere mehr: Auch darum, dass zu jener Zeit das Boot voll zu sein schien.

Können Sie schildern, welche Bedeutung die Figuren in Ihren Geschichten haben? Viele Nebenfiguren sorgen für eine lebendige Vielfalt: Etwa die streitbare Tante Cilly, die in ihrem selbstständig geführten Tearoom in Zürich mit Berühmtheiten wie Therese Giehse oder Heinrich Gretler in Berührung kommt und urbanes und internationales Flair verströmt. Oder der Hausarzt Kälin aus Einsiedeln, der dem Wirken des Naturheilers Friedli mit tolerantem Wohlwollen gegenübersteht. Oder Tante Amalie, das ledig gebliebene, gutmütige Faktotum im Hotelbetrieb, das viel Verständnis für die Kinder hat und entsprechend geliebt wird. Um welche Zeit drehen sich die 35 Kapitel? 34 Kapitel finden in der Zeit zwischen 1937 und 1949 statt und werden chronologisch abgehandelt: Sie gehen also teils vor meiner Geburt über die Bühne (ich habe den Jahrgang 1943). Das 35. Kapitel («En alti Schachtle») fällt chronistisch betrachtet aus der Reihe und handelt von einer Geschichte, die erst viel später stattfindet.

In welcher Art und Weise hat sich der Zweite Weltkrieg im Ybrig bemerkbar gemacht? Im Ybrig war nicht sehr spürbar, dass der Zweite Weltkrieg ausgebrochen war. In meiner Familie hingegen schon: Mein Vater war Offizier und während über Tausend Diensttagen im Militär. Unsere Mutter war im Hotel vielfach tätig. Vor allem bewältigte sie die Büroarbeit und gebar innert vier Jahren vier Töchter. Sie war für die damalige Zeit eine emanzipierte Frau und wäre gut in der Lage gewesen, ein Fabrikunternehmen mit zu führen. Das war allerdings damals in den 30er- und 40er-Jahren vollends undenkbar: Dass eine Frau an der Spitze eines Betriebes steht und diesen führt.

Erkennen Sie Parallelen zwischen der damaligen und der jetzigen Zeit? Zum Thema Krieg fällt mir oft ein Schillerzitat aus dem «Wilhelm Tell» ein: «Ein furchtbar wütend Schrecknis ist der Krieg, die Herde schlägt er und den Hirten.» Die Schweiz war damals wie heute nicht unmittelbar betroffen vom Krieg, aber doch auch involviert in das ganze Zeitgeschehen, Neutralität hin oder her. Naturgemäss ergeben sich Parallelen zwischen der damaligen und der heutigen Zeit. Wenn man nur bedenkt, dass heutzutage wieder mitten in Europa Krieg herrscht. Wie sind Sie zum Schreiben gekommen?

Schon in der Primar- und in der Mittelschule habe ich gerne Aufsätze geschrieben und war eine grosse Leseratte. Später habe ich während vieler Jahre wenig geschrieben, weil ich ausgelastet war mit Stellvertretungen in Apotheken und meinen drei Kindern. Jedoch habe ich noch während einigen Jahren Gesundheitskolumnen im «Gelben Heft» des Ringier Verlags geschrieben. Geblieben ist immerzu eine Sehnsucht nach dem Schreiben: Oftmals habe ich Tagebuch geschrieben und die Erkenntnis gewonnen, dass das Schreiben eine Art Lebensbewältigung sein kann.

Lassen sich mittels Schreiben auch schwere Themen wie Trauer, Verlust oder Selbstzweifel thematisieren? Ja, davon bin ich überzeugt und habe dies auch selber erfahren. Im Buch erzähle ich in der dritten Person, weder Verklärung noch Bitterkeit sind das Resultat. Ich schildere eine längst verblichene Lebenswelt, eine Heimat eben, die auch als ein «Heimet», also ein Haus, ein verlorenes Zuhause voller Leben, als «es farbigs Juhee» mit all seinen Gegensätzen in meiner Erinnerung melancholisch weiterwirkt. Sollten wir auch Vergangenes aus unserer Geschichte hinter uns lassen und vergessen können?

Ja, vergessen können kann heilsam sein. Nicht alles in unserem Leben kann verkraftet werden. Manchmal ist es sinnvoll, dass wir Dinge «wegerinnern» können. «Verstehen kann man das Leben oft nur rückwärts, doch leben muss man es vorwärts. » (Kierkegaard) Gerne zitiere ich auch Toni Morrison: «An wie viel aus der Vergangenheit, aus unserer Geschichte sollen wir uns erinnern und es im Herzen wahren, und wie viel davon müssen wir hinter uns lassen und vergessen?»

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