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«Wir sitzen ständig auf den Koffern»

«Wir sitzen ständig auf den Koffern» «Wir sitzen ständig auf den Koffern»

«Ich bin ein gut informierter Pessimist», beschreibt sich Olesya Lemish mit ernstem Gesicht. Sie bleibt ruhig, obwohl sie spürbar geschockt ist von den neuerlichen gezielten russischen Raketenangriffen auf zivile Ziele in ihrer Heimatstadt Kiew, darunter auf die zentrale Kinderklinik Ochmatdit. An diesem Tag kamen insgesamt über 40 Menschen ums Leben, über 200 Personen wurden verletzt.

Sie selbst habe mit ihrer Tochter die Ochmatdit-Klinik besucht, als diese noch klein gewesen sei, erzählt sie. Der Arbeitsplatz ihres Mannes und ihre Wohnung lägen ganz in der Nähe der Einschläge vom Montag. Noch kurz vor der Attacke hatte Lemish mit ihren ukrainischen Kolleginnen an der Einsiedler Friedenswallfahrt teilgenommen.

Obwohl es längst nicht der erste russische Angriff dieser Art ist, scheint es doch immer noch eine höhere Eskalationsstufe zu geben. Lemish ist überzeugt, dass es eine neuerliche Machtdemonstration Putins kurz vor dem Nato-Gipfel gewesen ist, der in die-sen Tagen stattgefunden hat. «Es ist schrecklich, gleichzeitig schweisst es die Bevölkerung nur noch mehr zusammen und rüttelt jene auf, die in eine Art ‹Kriegsroutine› verfallen sind», meint sie.

Es gibt keine sicheren Orte in der Ukraine Der Raketenschlag beweise auch einmal mehr, dass es in der Ukraine keinen wirklich sicheren Ort gebe, weil sämtliche Städte in der Reichweite russischer Raketen lägen, selbst jene an der Westgrenze. So viel zu den Ideen jener Politiker, die den Schutzstatus S für ukrainische Flüchtlinge aus «sicheren Regionen» abschaffen wollen.

Die Tochter vermisst den Vater in der Ukraine Obwohl der Angriff viele erschreckt hat, liess sich Lemish nicht von ihren Reiseplänen für diesen Sommer abbringen. Sie will mit der Tochter zu ihrem Mann in Kiew. In den zwei Wochen «Ferien», die ihr durch den Schutzstatus zugestanden werden, gibt es vieles zu erledigen, unter anderem braucht die Tochter einen neuen Pass.

Verwandte und Freunde warten. Die Familie muss wieder einmal zusammen sein, wenn auch nur für kurze Zeit. «Unsere Tochter ist stark mit dem Vater verbunden und vermisst ihn sehr.» Der immer länger andauernde Krieg bedeutet nicht nur für die westlichen Gastländer und -familien eine zunehmende Belastung – auch für die Flüchtlinge ist die Ungewissheit schwer zu ertragen. Lemishs Tochter war ein Jahr in einer Integrationsklasse und ist jetzt in der zweiten Oberstufe. Darum muss sie sich bald entscheiden, wie es weitergeht. Neben der Schule in der Schweiz nimmt sie online auch am ukrainischen Unterricht teil. Darum stellt sich als erste Frage, ob es in der Ukraine oder in der Schweiz weitergehen wird. Das ukrainische Bildungssystem unterscheidet sich in vielem von jenem in der Schweiz. Manches wäre zu Hause einfacher, weil man damit vertraut ist. «Wir sitzen ständig auf den Koffern», meint Lemish traurig.

Das duale Bildungssystem der Schweiz bietet viele Chancen, ist aber für viele Ukrainerinnen und Ukrainer völliges Neuland. Viele Berufe, für die es in der Schweiz eine Berufslehre gibt, werden in der Ukraine an Fach- oder Hochschulen erlernt. Auch die zahlreichen kantonalen Unterschiede sind für viele Ukrainer schwer zu verstehen, die sich ein weitgehend standardisiertes und zentralisiertes Bildungssystem gewohnt sind.

Schwierige berufliche Integration als Spezialistin Auch für Olesya Lemish stellt sich die Frage einer beruflichen Integration. Ihre grosse berufliche Erfahrung als Buchhalterin und Finanzanalystin macht die Sache nicht unbedingt einfacher. Um in der Schweiz als Spezialistin einsteigen zu können, braucht sie sehr gute Deutschkenntnisse. Andererseits wäre gerade die praktische Arbeit wichtig, um sich die spezifischen Sprachkenntnisse ihres Berufs anzueignen.

Dank dem Internet verliert sie nicht völlig den Kontakt mit der Ukraine. Sie versucht das Beste aus der Situation zu machen. Immer wieder betont sie, wie dank-bar sie für die Aufnahme in der Schweiz ist. Sie engagiert sich weiterhin für den ukrainischen Chor «Perespiv», der nach der Sommerpause wieder mit den Proben fortfahren wird. Ausserdem setzt sie sich mit viel Herzblut für die Vermittlung der ukrainischen Kultur ein – einerseits für das Schweizer Publikum, andererseits aber auch für die Ukrainer selbst. «Manche verges-sen ihre eigene Sprache in der Fremde.»

Die Ukrainerinnen haben an der Einsiedler Friedenswallfahrt teilgenommen, welche dieses Jahr vom Frauenkloster Au ins Kloster Einsiedeln führte (mit Halt in der reformierten Kirche).

Foto: zvg Ist dankbar für die Schweizer Hilfsbereitschaft: Olesya Lemish aus Kiew.


Foto: Eugen von Arb

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