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«Jak ty!?» – die tägliche, ängstliche Frage in die ukrainische Heimat

«Jak ty!?» – die tägliche, ängstliche  Frage in die ukrainische Heimat «Jak ty!?» – die tägliche, ängstliche  Frage in die ukrainische Heimat

Der endlos scheinende Krieg in der Ukraine drückt auf die Moral der Bevölkerung und der Geflüchteten in der Schweiz. Gleichzeitig macht die Integration der Ukrainerinnen und Ukrainer im Kanton Schwyz gute Fortschritte.

Tapfer feierten die Ukrainerinnen in Einsiedeln am 24. August den Unabhängigkeitstag ihres Landes. Mit blaugelben Flaggen und Bändern geschmückt, san-gen sie auf dem Klosterplatz die Landeshymne, machten sich gegenseitig Mut und fotografierten sich. In manchen Augen standen Tränen.

Überleben im Kriegsalltag

Auch Irina Bilyavska Camenzind, Leiterin des komin Projekts «Netzwerk Ukraine» im Kanton Schwyz, war an der Feier. Gerade ist sie von einer Reise zu ihrem Vater und ihren Freunden in der westukrainischen Heimatstadt Uzhhorod zurückgekehrt und von frischen Eindrücken geprägt. Sie erzählt vom mühsamen Kriegsalltag, der in erster Linie von der Energieknappheit bestimmt wird. «Wegen der zerstörten Kraftwerke gibt es in Uzhhorod nur drei Stunden täglich Elektrizität», erklärt sie. «Hinzu kommt, dass die Leute nicht wis-sen, wann die Stromschicht in ihrem Stadtviertel beginnt.

«Eine Kollegin pendelt mit ihrem Laptop zwischen den verschiedenen Stadtteilen, um für einige Stunden arbeiten zu können. » Sie zeigt ein Video mit mehreren ratternden Dieselgeneratoren vor Strassencafés und meint: «Die Stromaggregate sind so laut, dass man sich im Café nicht einmal unterhalten kann und vor dem Lärm flüchten muss.» Die Menschen sind müde und niedergeschlagen Der öffentliche Verkehr ist überlastet, weil die Bevölkerung sich durch die Kriegsinlandflüchtlinge etwa verdoppelt hat. Der Strommangel lähmt die Wirtschaft im ganzen Land. Die Soldatenfriedhöfe werden immer grösser. Auch in den Landesteilen hinter der Front ist das Leben zu einem täglichen Überlebenskampf geworden, und der Winter rückt rasch näher.

«Die Menschen sind müde und niedergeschlagen», meint Bilyavska. «Vor einem Jahr waren alle noch motiviert und davon überzeugt, dass die Ukraine ihre besetzten Gebiete zurückerobern kann – heute sprechen viele von Verhandlungen, um endlich Frieden zu haben.» Integrationsprogramme tragen Früchte Doch auch in der sicheren Schweiz werden die Ukrainerinnen und Ukrainer nicht von ihrer Kriegsangst in Ruhe gelassen. «Heute morgen habe ich am Bahnhof Einsiedeln eine Freundin getroffen – die mich gleich fragte, ob ich schon vom jüngsten Raketenangriff auf die westukrainische Stadt Lwiw gehört hätte. Ich wusste nichts davon und schrieb sofort per Messenger meinem Patensohn in Lwiw», erzählt Bilyavska bewegt. «Jak ty?!» – «Wie geht es dir?» «Das ist die Frage, die uns alle hier täglich beschäftigt. Zum Glück hatte mein Patensohn den Angriff im Schutzkeller gut überstanden. » Diese ständige Angst um Heimat und Angehörige bedrückt die ukrainischen Flüchtlinge und macht es vielen schwer, sich auf das Alltägliche hier zu konzentrieren. Und dennoch tragen die verschiedenen Unterstützungsprogramme Früchte. «Wir versuchen aus dieser Negativ-Spirale herauszukommen. Vieles von dem, was vor zweieinhalb Jahren aufgegleist wurde, läuft mittlerweile gut», meint Bilyavska optimistisch. «Bei vielen Projekten, die anfangs Unterstützung vom ‹Netzwerk Ukraine› erhielten, ha-ben die Ukrainerinnen und Ukrainer selbst die Verantwortung übernommen, und das gibt den Menschen Selbstvertrauen und lässt sie vorwärtsschauen.» In Einsiedeln gehört dazu ein Zweig des ukrainischen Chores «Perespiv», der sich mittlerweile mit anderen Chören in der ganzen Schweiz vernetzt hat und gemeinsame Konzerte abhält. Das Improvisationstheater der Regisseurin Mariia Kostuchenko gibt den ukrainischen Jugendlichen die Möglichkeit, mit selbst entwickelten Stücken ihre Vergangenheit und ihre Alltagssorgen zu verarbeiten und ihre kulturelle Identität zu bewahren. Des Weitern gibt es Strick- und Bastelkurse. «Was könnt ihr selber tun? Diese Frage steht bei uns immer an erster Stelle», erklärt Bilyavska. Ungebrochene Unterstützung aus der Bevölkerung Ungebrochen ist die Unterstützung durch die Bevölkerung und durch die Kirchen. Die reformierte Kirche stellt mittwochs einen Raum für die Gesangsproben, für die Friedensgebete und die wöchentlichen Treffs der Ukrainerinnen zur Verfügung. In der Kirche des Klosters finden jede Freitagabend Friedensgebete statt. Ausserdem darf die Ukrainische griechisch-katholische Kirche dort Gottesdienste abhalten. «Für viele Ukrainerinnen und Ukrainer aus der ganzen Zentralschweiz ist Einsiedeln ein wich-tiges religiöses Zentrum geworden », so Bilyavska. Bund und Kantone haben entschieden, die berufliche Integration von ukrainischen Geflüchteten stärker zu fördern. Kürzlich hat eine Gruppe von 15 Ukrainerinnen eine Pflegehelferinnen-Ausbildung im Rahmen eines Pilotprojekts des Kantons und des Roten Kreuzes (SRK) gestartet. Komin führt ein Programm «Mach dich fit für den Arbeitsmarkt » mit Gesprächsrunden rund ums Thema Arbeitsintegration. Bilyavska lobt auch das freiwillige Engagement von Mirko Schneider aus Einsiedeln, der Ukrainerinnen und Ukrainern bei der Arbeitssuche unterstützt.

Freude macht Bilyavska die junge Generation. Viele junge Geflüchtete sind mittlerweile aus den Integrationsklassen in reguläre Klassen übergetreten oder bereits auf der Suche nach einer Lehrstelle. Das 10. «Brücken »-Schuljahr gibt ihnen die Möglichkeit, sich besser auf die Lehre vorzubereiten.

Der S-Status wurde am 4. September 2024 vom Bundesrat bis zum März 2026 verlängert. Momentan leben fast 67’000 Ukrainerinnen und Ukrainer mit Schutzstatus S in der Schweiz. Per 31. Juli 2024 waren im Kanton Schwyz 1165 Personen mit Schutzstatus S gemeldet.

Foto: Eugen von Arb

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