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Der neue wilde Westen

Der neue wilde Westen Der neue wilde Westen

BRIEF AUS DEN USA

Unser fast 13-jähriger Sohn Cody möchte an eine Beerdigung eines 16-Jährigen gehen. Cody kannte Ricky von der Schule und übte mit ihm zusammen im Skatepark neue Tricks. Codys Wunsch löste allerlei Gespräche aus: Ricky wurde vor einer Woche das Opfer einer Schiesserei in einem Park in unserem Wohnort. Beim Täter handelt es sich um einen Burschen, welcher genauso jung wie Cody ist. Die genauen Hintergründe werden von den Behörden eruiert und der Schulbezirk stellte Psychologen zur Verfügung.

Natürlich drehen sich unsere familieninternen Gespräche um den Waffenzugriff. Weshalb hatte ein Zwölfjähriger Zugang zu einer Waffe und wo waren seine Eltern? Und weshalb gesellte sich der Junge zu einer Gruppe von Teenagern, dazu noch um fast Mitternacht? Ich habe weder als Mutter noch als Erdenbürgerin passende Antworten.

Ich kann nur beschreiben, was ich seit 2007 bisher zum Glück nur indirekt beobachten kann. Seit ich nach Colorado zog, höre und lese ich immer öfter von Vorkommnissen mit Waffen. Subjektiv gesehen entwickelt sich Amerika zurück zum Wilden Westen. Wir sind mittlerweile nirgendwo komplett sicher. Supermärkte, Kinos, Schulen, Einkaufszentren und gar Strassenkreuzungen waren in den vergangenen Jahren Schauplätze von Schiessereien. Wir sprechen nicht von den verruchten Vororten in Chicago. Wir sprechen von Orten in meinem direkten geografischen Umfeld in Colorado. Es gibt Tage, an welchen ich mit einem mulmigen Gefühl meine Kinder zur Schule bringe und hoffe, dass meine frühmorgendlichen Ermahnungen, die Zähne zu putzen, nicht meine letzte Konversation mit ihnen war. Es gibt Tage, an denen ich mich frage, wie ich eine Seniorin, mit welcher ich regelmässig in den Supermarkt gehe, im Fall einer Schiesserei schützen könnte. Es gibt Tage, an denen die Kinder während der Schule für den Fall einer aktiven Schiesserei üben.

Solches beschäftigt die Amerikaner in jedem Bundesstaat. Die psychische Verfassung der Täter wird in Gerichtssälen diskutiert. Immer mehr Leute können nicht mit negativen Emotionen umgehen, und es kommt öfter zu Kurzschlusshandlungen. Ein Schwerpunkt in den Schulen ist neuerdings neben dem ABC und Algebra die sozial-emotionale Entwicklung. Es gibt einen winzigen Hoffnungsschimmer am Himmel des neuen Wilden Westens. Aber leider kann auch ich die amerikanische Bundesverfassung nicht ändern. Darin wird beschrieben, dass jeder Einwohner das Anrecht auf den Besitz und das Tragen einer Waffe zur Selbstverteidigung hat. Leider ist der Schritt von der Selbstverteidigung zu einer kriminellen Tat winzig. Die Chance, dass das Gesetz in absehbarer Zeit geändert wird, ist ebenso winzig.

Regula Grenier-Flückiger * Die Einsiedlerin Regula Grenier-Flückiger (*1973) zog im Jahr 2007 nach Denver im amerikanischen Bundesstaat Colorado, am Fusse der Rocky Mountains. Seit dem Jahr 2011 wohnt sie im Nachbarort Thornton. Dort kamen im Jahr 2011 Sohn Cody Frederick und im Jahr 2015 Tochter Stephanie Nova zur Welt.

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