Das Monatsgespräch im April
Franziska Keller trifft Nicole Kern, als Detailhandelsfachangestellte an der Front
Jahrgang: 1968 Bürgerort: Wetzikon, Herisau (durch Heirat) Geburtsort: Zürich Wohnort: Einsiedeln Viele Leserinnen und Leser werden sie kennen, da sie in einem bekannten Lebensmittelgeschäft in Einsiedeln arbeitet. Nebst dem Pflegepersonal gehört Nicole Kern zu den Personen, die sich tagtäglich der Kundschaft und dadurch einer möglichen Ansteckung aussetzen. Gewisse Abteilungen sind geschlossen und dadurch andere Mitarbeitende in die Kurzarbeit geschickt worden. Wie sie damit umgeht, worüber sie sich derzeit freut und was sie ärgert, erzählt sie mir an einem kühlen Frühlingstag – eingehüllt in Wolldecken und in gebührendem Abstand – draussen im Garten.
Welche Artikel verkauft ihr momentan am meisten?
WC-Papier, Teigwaren und Konservendosen – in dieser Reihenfolge.
Inwiefern hat sich das Einkaufsverhalten eurer Kundschaft in den letzten Wochen verändert? Seit Ausbruch der Krise kauft sie meist grössere Mengen. Waren es vor Corona zwei Päckli Spaghetti, sind es heute zehn. Die Vorratsgestelle werden gefüllt – man weiss ja nie … Wie deuten Sie dieses Verhalten?
Ich deute es als Urangst des Menschen, dass er zu wenig zu essen haben könnte. Jedoch kann ich den Ansturm auf das WC-Papier wirklich nicht nachvollziehen.
Und wie erleben Sie die Kundinnen und Kunden?
Anfangs, als es noch unsicher war, ob der Notstand wirklich ausgerufen wird, waren die Leute extrem hektisch, luden ihre Verkaufswägen voll, redeten kaum, waren fokussiert auf ihren Einkauf und schienen nur ein Ziel zu haben: Horten, den Kellervorrat füllen. Ich erlebte zum ersten Mal so richtig, was «Hamstern» (Hamsterkäufe) bedeutet.
Als dann der Notstand ausgerufen und das Sortiment runtergefahren werden musste, kamen viel weniger Leute, weil man ja nicht mehr eigentlich «lädele» kann.
Allmählich beginnen jetzt aber die Diskussionen über Sinn und Unsinn. Gewisse ärgern sich, weil man das gewünschte Produkt nicht kaufen darf, obwohl es doch im Gestell steht, aber «von oben verordnet» abgeriegelt werden muss, weil es nicht zum täglichen Bedarf gehört. Grad gestern kam jemand, der sein Parfüm haben wollte und als wir es ihm verweigerten, wurde er uns gegenüber richtig aggressiv. Ich hoffe, das häuft sich nicht.
Welche Vorkehrungen sind bei euch getroffen worden?
Die allgemein bekannten Hygienevorschriften, aber weil es bei uns eher eng ist, sind die zwei Meter eine echte Herausforderung. An der Kasse wurden schnell und unbürokratisch Plexiglasscheiben angebracht, die uns zu einem Teil schützen. Barzahlen ist noch immer möglich, weshalb auch die meisten von uns Handschuhe tragen – was mehr oder minder praktisch ist, da nicht jeder Handschuh touchscreen- kompatibel ist. Und wir haben einen Eingangskontrolleur, der die Leute begrüsst und auf Wunsch Desinfektionsspray verteilt.
Wie gross ist Ihre Angst, vom Coronavirus angesteckt zu werden?
Um mich und meine Kinder fürchte ich mich nicht, eher um unsere älter gewordenen Mütter. Ganz ehrlich: wenn ich grosse Angst um mich hätte, könnte ich gar nicht mehr arbeiten. Mir hilft meine pingelige Selbsthygiene.
Was ist in Ihrem Leben nebst dem omnipräsenten Thema noch aktuell? Ganz ehrlich: wenig, weil ich momentan relativ viel arbeite. Einzelne von uns mussten in die Kurzarbeit gehen, weil gewisse Abteilungen geschlossen wurden oder weil sie kleine Kinder daheim haben, die betreut werden müssen. Als Familie bemühen wir uns am Tisch, möglichst wenig darüber zu reden und auch nicht mehr jede Sondersendung zu verfolgen. Um abzuschalten, versuche ich, bewusster zu leben, geniesse mit meinem Mann ein gutes Glas Rotwein oder schaue abends einen schönen Film.
Worüber können Sie sich derzeit freuen?
Ich freue mich am meisten über unsere Kinder: die Tochter in der Pubertät, der Sohn ein junger Erwachsener. Ich bewundere die beiden, wie sie die Situation gut mittragen, ihren Alltag meistern, unseren Familienaustausch und wie wir in dieser Krisensituation zusammenhalten. Wie und wo erholen Sie sich?
Ich koche gerne mit Freunden, verbringe Zeit in der Natur und lese sehr gerne Romane. Interessanterweise entdeckte ich in letzter Zeit meine Leidenschaft für Krimiromane. Das hat sich verändert, wie sich eine Essensgewohnheit mit den Jahren ändern kann.
Aufgewachsen in der Stadt Zürich leben Sie seit 14 Jahren in Einsiedeln. Was hat Sie aufs Land gebracht? Ich konnte mir früher nie vorstellen, aufs Land zu ziehen, was dann mein Mann aber doch fertiggebracht hatte. Als Stadtzürcher kam er oft zum Langlaufen hierher und irgendwann beschlossen wir, hierher zu zügeln. Unser Sohn war damals gerade vier Jahre alt geworden und uns schien das Aufwachsen auf dem Land für unsere Kinder ruhiger und schöner. Vermissen Sie etwas aus Ihrem früheren Stadtleben? Zu meinem eigenen Erstaunen vermisse ich nichts, denn ich könnte ja jederzeit hinfahren. Vielleicht meine Familie, die noch in Zürich lebt und die man nicht nur für einen spontanen Kaffee besucht. Aber sonst bietet mir Einsiedeln alles, was ich zum Leben brauche.
Was sagen Sie zum kondensstreifenfreien Himmel?
Wenn ich jetzt zum Himmel schaue, staune ich, wie unglaublich schön er erstrahlt. Er verdeutlicht richtiggehend den Stillstand. Es ist zum Bewundern, wie Umweltbilder zeigen, dass sich schon nach kurzer Zeit einiges verändern kann. Das sollte uns ein Fingerzeig sein – auch für nachher. Sind Sie selbst ein Reisefüdli?
Ich gestehe, ich bin ein grosses «Reisefüdli» und reise gerne, um Neues kennenzulernen, um anderes zu sehen und auch wieder um heimzukehren und zu schätzen, was ich selber habe. Reisen macht mich toleranter. Was war die grösste Herausforderung zu Ihrer eigenen Jugendzeit?
Der ganze Umgang mit den sozialen Medien, den es zu unserer Zeit noch nicht gab. Aber in einer Krisensituation wie der Jetzigen überwiegt das Positive an diesen Medien. Wenn man das sagt, realisiert man, dass man selbst alt wird.
Im Gegenzug waren wir früher sicher verbindlicher. Manchmal höre ich meine Kinder sagen: «Ich finde es cool, wie ihr es früher hattet», weil sie diese Verbindlichkeit gar nicht mehr kennen.
Ihr Schlusswort für heute?
Ich fand es jetzt richtig schön, mich mit jemandem ausserhalb meiner Familie und meines Arbeitsplatzes unterhalten zu dürfen.
Foto: Franziska Keller
Von Franziska Keller