«Faul sein ist etwas Wichtiges» – Heute lesen, was morgen im EA steht
Zum Abschluss der Serie «Auf den Hund gekommen»: Interview über den inneren Schweinehund mit dem Einsiedler Psychiater Kaspar Schnyder
Wir alle kämpfen täglich gegen unseren inneren Schweinehund. Indem wir unsere Komfortzone verlassen, Sport treiben, gesund leben, sinnvoll handeln, um ein besserer Mensch zu werden. Psychiater Kaspar Schnyder (64) macht im Interview klar, dass wir bei all dem auch nicht vergessen sollten, unseren inneren Schweinehund zu füttern.
Wolfgang Holz
Herr Schnyder Sie haben zwei Hunde, Laska und Goya, zwei sibirische Samojeden. Warum?
Ich bin mit Hunden aufgewachsen, und in meiner Familie hat es immer Hunde gegeben. Hunde sind seit meiner Kindheit meine Begleiter.
Was schätzen Sie an der Begleitung von Hunden?
Hunde sind sehr loyal und auf den Menschen bezogen. Und sie motivieren mich – wenn man das Thema innerer Schweinehund im Blick hat –, mich zu bewegen, in die Natur zu gehen und selber eine Beziehung aufzunehmen. Dank ihrer Freundlichkeit.
Heisst das konkret, dass Sie ihren inneren Schweinehund eigentlich ausgelagert haben?
Ja, im Grunde schon. Denn meine Hunde veranlassen mich zu Fuss zu gehen, mit dem Velo zur Arbeit zu fahren. Dass ich mich bewege. Unser alter Hund ist jetzt allerdings nicht mehr so fit – deshalb haben wir uns noch einen zweiten jüngeren zugelegt.
Nicht jeder wie Sie hat Hunde. Trotzdem sind wir irgendwie alle Hundebesitzer – weil wir ja unseren inneren Schweinehund haben …
… dieser Ausdruck ist ein bisschen belastet. Der Begriff stammt aus dem Militär. Der Schweinehund ist ja im Grunde eine Hunderasse und wird als englische Buldogge bezeichnet. Der Ausdruck innerer Schweinehund, den wir als Menschen verwenden, ist vor allem in Armeekreisen während des Ersten Weltkriegs benutzt worden – für jene Soldaten, die sich nicht aus dem Schützengraben heraustrauten. Die ihren inneren Schweinehund nicht überwinden konnten. Für uns Menschen ist der Begriff letztendlich repräsentativ für das Schlechte. Für die Aggression. Für fehlende Motivation, Kraft und Selbstbeherrschung. Der Schweinehund ist so eine Art Projektionsfläche für alles, was man nicht machen sollte.
Man kann oder muss doch den inneren Schweinehund auch so verstehen, dass wir ihn überwinden müssen, um etwas Gutes zu tun … Ja, der Schweinehund zwingt uns quasi zum Guten.
Wo hat denn der Schweinehund sein Körbchen bei uns?
(lacht) Er sitzt immer im Kopf.
Und wie kann man den Schweinehund aus seinem Körbchen hervorlocken?
Das ist eigentlich anders. Der Schweinehund lockt uns aus unserem Körbchen hervor. Er bringt uns dazu, dass wir unsere Komfortzone verlassen. Wir sind dabei einem komischen Paradoxon ausgeliefert, indem wir Sachen machen, die uns kurzfristig ein gutes Gefühl geben, aber langfristig sehr negative Auswirkungen auf uns haben. Das ist das Problem der Sucht. Und bei der Sucht geht es darum, dass man den Schweinehund überwindet und auf etwas verzichtet.
Könnte man den inneren Schweinehund also gleichsetzen mit Faulheit?
Ja, aber auch mit fehlender Selbstbeherrschung. Fehlender Selbstfürsorge. Er ist die Bequemlichkeit. Er ist für uns die Vorliebe, eine Abkürzung nehmen zu wollen. Die Überwindung des Schweinehunds hilft uns deshalb, etwas Gutes zu tun. Uns zu engagieren.
Müssen wir denn jeden Tag unseren inneren Schweinehund überwinden oder gibt es auch so etwas wie eine Routine?
Ja, die nennt man Disziplin. Die ist zwar auch nicht wahnsinnig positiv besetzt (lacht). Aber es dreht sich wirklich um die Selbstdisziplin.
Aber ist es denn nicht auch menschlich, faul zu sein?
Das ist eine philisophische Frage. Ich glaube schon. Es ist einfach ein dialektisches Prinzip. Faul sein ist etwas Wichtiges – für die Rekreation, die Ruhe, die Entspannung. Um unsere Ressourcen zu pflegen. Um sich nicht ständig selbst auszubeuten. Deshalb ist Faulheit nicht grundsätzlich etwas Schlechtes.
Sind Menschen, die deshalb versuchen, ständig ihren inneren Schweinehund zu überwinden, unterm Strich Getriebene?
Das glaube ich nicht. Das sind Menschen, die einfach nicht zur Ruhe kommen können. Der innere Schweinehund sitzt bei diesen Menschen quasi ständig im Körbchen, weil er nichts zu tun hat. Sie befinden sich permanent im Zustand der Selbstausbeutung.
Aber kann es nicht auch eine Sucht sein, zu glauben, den Schweinehund ständig überwinden zu müssen?
Sucht entsteht ja nur dann, wenn das Belohnungszentrum im Gehirn ständig aktiviert wird. Klar, es gibt Arbeitssucht, Sportsucht – aber diese Menschen müssen ja nicht mehr ihren inneren Schweinehund überwinden. Solche Menschen müssen sich eher mal dazu überwinden, zur Ruhe zu kommen.
Da wäre der innere Schweinehund dann quasi der Weg zur Faulheit …
… ja. Sprich, die Faulheit auch mal bewusst zuzulassen.
Kann so ein ständiger Aktionismus, den inneren Schweinehund überwinden zu wollen, auch eine Flucht sein?
Ja. Dazu gehört auch die Flucht, sich ja nicht selbst zu begegnen. Oder solche Gefühlszustände wie Trauer und Erschöpfung zuzulassen.
In der Literatur gibt es ja regelrechte Ikonen der Faulheit, die ein ganz austrägliches und angenehmes Dasein fristen, wie etwa «Oblomow», der Klassiker unter den Faulen. Oder auch der «Taugenichts» von Eichendorff führt kein schlechtes Leben. Was sagen Sie dazu?
Hierher gehört sicherlich auch das italienische «Dolce far niente» dazu – das süsse Nichtstun. Das ist auch eine Lebenskunst. Wir sind eben Kinder einer Leistungsgesellschaft. Wir sind keine Kultur, die unsere reine Existenz begrüsst. Und wir bekommen schon als Kinder vermittelt, dass wir dann Anerkennung erfahren, wenn wir den Projek-
tionen unserer Eltern entsprechen und erfolgreich sind im Leistungssinn. Oder im Sinne der Attraktivität. Das ist Überlebenskunst. Die eigentliche Lebenskunst besteht in der Ruhe. Ohne sich dabei schlecht zu fühlen.
Schaffen Sie es denn persönlich, diese höhere Daseinsform ab und zu zu leben?
Ja, ich denke schon, aber es ist eine Herausforderung, nicht ständig etwas leisten zu müssen. Rekreation zu pflegen.
Würden Sie sagen, man ist am glücklichsten – wenn man den inneren Schweinehund einerseits überwindet …
… und ihn andererseits füttert. Ja. Sprich, beispielsweise die Ruhe pflegt.
Mit was würden Sie denn den inneren Schweinehund füttern?
Man muss dabei die Fertigkeit entwickeln, Freude, Sympathie und Liebe zu empfinden. Freude zu entwickeln, neugierig zu sein. Und das muss man üben. Die Übung besteht dann nicht darin, den inneren Schweinehund ständig zu überwinden, sondern ihn zu füttern und auf ihn zuzugehen. Dazu gehört auch das Pflegen von hedonistischen Tätigkeiten. Dinge zu tun, die einem Freude bereiten. Das sind dann aber nicht unbedingt Leute, die sagen, ich habe Freude an meiner Arbeit, ich bin Hedonist. Hinter solche Aussagen setze ich immer meine grossen Fragezeichen.
Gibt es denn aus Ihrer Sicht konkrete Tipps, wie man den inneren Schweinhund überwinden oder füttern kann?
Ich glaube, das muss jeder selbst herausfinden. Das menschliche Gehirn neigt eher zur Faulheit. Und das Gehirn will unterm Strich eine Belohnung bekommen. Egal, was man tut, man sollte sich hinterher einfach gut fühlen. Es sollte der Gesundheit und dem Lebensstil zuträglich sein.
Letzte Frage an Sie: Müssen eigentlich auch Hunde einen inneren Schweinehund überwinden?
Nein, ich denke nicht. Hunde haben sicher ihren äusseren Schweinehund – den Mensch, der sie etwa bei garstigem Wetter hinterm Ofen hervorholt und draussen mit ihnen spazieren geht.