Kantonalkirche geht mit Verhaltenskodex gegen Missbrauch vor
Seelsorger und Mitarbeitende der katholischen Kirche müssen jetzt eine Erklärung unterschreiben.
«Wie nah ist zu nah?» Diese Frage müsse sich jeder Seelsorger stellen, sagt Generalvikar Peter Camenzind. Antworten darauf liefert ein 32-seitiger Verhaltenskodex, den das Bistum Chur im vergangenen Jahr herausgegeben hat. Darin ist klar aufgelistet, wie man sich in der Arbeit mit Menschen verhalten soll und wie nicht. Dabei geht es sowohl um sexuellen als auch um spirituellen Missbrauch.
Grund für diese Initiative sind die Missbrauchsfälle der letzten Jahrzehnte, die in der katholischen Kirche publik geworden sind. Sie haben dem Image der Kirche massiv geschadet: «Es geht nun darum, dass sich das Personal der Problematik bewusst ist und dass keine Grenzüberschreitungen mehr passieren », erklärt Lorenz Bösch, Präsident des kantonalen Kirchenvorstandes.
Und: «Die Behördenmitglieder in den Kirchgemeinden sind in die Präventionsbemühungen zu integrieren. Sie prägen ein Führungsklima mit, das den Umgang mit Macht thematisieren kann, um Grenzüberschreitungen möglichst zu verhindern.» Kirchenräte werden geschult
Deshalb zielt das Papier nicht nur auf die Mitarbeitenden in den Kirchen ab. Im Februar organisiert die Kantonalkirche in Einsiedeln ein Treffen für Kirchenratsmitglieder. Dort werden sie geschult, wie sie den Verhaltenskodex im Alltag umsetzen sollen.
Bösch rechnet mit rund dreissig bis fünfzig Anwesenden. Weitere Anlässe sollen folgen. Laut Peter Camenzind ist in der Bistumsregion Urschweiz bereits das Personal in vier von fünf Dekanaten und in mehreren Landeskirchen mit dem Kodex geschult worden.
Camenzind betont: «Dieser Verhaltenskodex ist kein Alibipapier. » Ziel ist es, dass die Qualität der Seelsorge verbessert wird und dass man bei Irritationen nicht wegschaut, sondern darüber spricht. Es gehe nicht um Kontrolle und Verdächtigung. Geplant ist, dass alle Angestellten diese Selbstverpflichtung in den nächsten Monaten unterschreiben. Ende Jahr will die Bistumsregion Urschweiz eine Zwischenbilanz ziehen. Gegen den Verhaltenskodex regt sich Widerstand Gemäss Verhaltenskodex könnte ein Priester oder eine Mitarbeitende sogar entlassen werden, wenn die Person die Unterschrift verweigert. Es gebe Personen, die sich mit einigen wenigen Aussagen nicht identifizieren könnten und deshalb den Kodex nicht unterschreiben wollten. Mit ihnen suche man das Gespräch. Eine Entlassung wäre nur die «Ultima Ratio».
Und wie sind die Reaktionen auf das Papier? «Es kommen natürlich viele Fragen auf», sagt Camenzind. Die einen begrüssten es sehr, dass die Kirche das heikle Thema jetzt anpacke. «Und bei anderen ist eine gewisse Verunsicherung da. Manche Seelsorger sind auch frustriert, dass sie unter Generalverdacht stehen.» Kritisiert wird von Vertretern aus konservativen Kreisen, dass der Kodex die kirchliche Lehre untergraben würde. Beispielsweise beim Ehegelübde, das keine Scheidung akzeptiert, oder bei der Homosexualität, die in der katholischen Kirche nicht auf der gleichen Ebene steht wie die Ehe zwischen Mann und Frau.
Im Kodex ist aber zu lesen: «Ich anerkenne, dass jeder Mensch in ganz unterschiedlichen Lebenssituationen (zum Beispiel Scheidung) Sinn sucht und deshalb spirituelle Angebote wünscht, und schaffe keine abwertenden Tabus. » Und: «Ich unterlasse jegliche Form von Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung oder Identität. Einem Outing zu sexueller Orientierung stehe ich unterstützend zur Seite.» Aktuell keine Missbrauchsfälle in der Region bekannt Wie gravierend ist die Problematik in unserer Region tatsächlich? Generalvikar Camenzind sind keine aktuellen Missbrauchsfälle bekannt. Aber er verneint nicht, dass solche auch in der Zentralschweiz vorkommen können. Und Lorenz Bösch ergänzt: «Mir sind glücklicherweise keine spezifischen Fälle bekannt. Ich gehe davon aus, dass es kein akutes Problem ist.» Dennoch sei es wichtig, mit dem Kodex in die Prävention zu investieren.