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Eine berührende Lebensgeschichte

LESERBRIEFE

Gedanken zum Buch «Mein Leben bitte in Papier einpacken» von Annemarie Iten, Einsiedeln (43/23)

Der Verfasser dieser Zeilen war seinerseits Heim- und Verdingkind und litt jahrelang unter der behördlichen Arroganz und der Selbstüberschätzung ihrer Vertreter. Das mag wohl mit ein Grund gewesen sein, warum ihn die Lebensgeschichte von Annemarie Iten berührt.

Ihr Buch ist wertvoll, weil sie das Schreiben nicht zu einem Mysterium verklärt. Sie verliert sich nicht in nebelhaften Andeutungen. Die zentralen Gestalten sind erkennbar und tragen ihre ganz individuellen Charakterzüge mit den jedem Menschen innewohnenden Stärken und Schwächen. Eine persönliche Abrechnung liegt ihr also fern, obgleich sie als Kind im Waisenheim Einsiedeln oftmals herrschsüchtigen Erziehungspersonen mit ambivalenten, psychosozial umstrittenen Methoden ausgeliefert war.

Beim Lesen spürt man, wie sie das Schreiben zu einer Beschäftigung macht, die sie offensichtlich, wie jede Aufgabe in ihrem Leben, sei es als Kindergärtnerin, als Lehrerin, Mutter, Familienfrau, mit Hingabe, Geduld und Hartnäckigkeit ausgeübt hat. Das Lesepublikum spürt ihren Leitgedanken: «Schreibe über alles, aber bleibe bei der Wahrheit.» Sie erkennt auch, dass sie bei jedem Versuch, über das eigene Leben «unverfälscht» zu schreiben, an die Grenzen ihrer Erinnerung stösst. Daher greift sie immer wieder auf Amtsbücher, Akten, Urkunden und historische Unterlagen zurück. Sie nimmt auch ihr Tagebuch hervor, in dem sie damals in rührender, kindlicher Unschuld über schöne und belastende Momente von der Seele schrieb. So wird ihr Buch zum überzeugenden Ausdruck ihrer Persönlichkeit und Lebensgeschichte.

Annemarie Iten hat ihr Buch, das sich flüssig und angenehm liest, in der dritten Person verfasst und so eine Erzählperspektive gewählt, mit der sie über die Gestalt der Sophia von aussen auf ihre eigene Geschichte schaut. Damit objektiviert die Autorin die erzählte Wirklichkeit und schützt sich so vor «Wiedererleiden» von Verlusterfahrungen wie der Tod ihrer Eltern in ihrem 7. Lebensjahr, der abrupten Trennung von ihren Geschwistern und später dem frühen Tod ihrer geliebten Tochter. Sie schützt sich auch vor den Leiden im Waisenhaus Einsiedeln, dem Nachwirken der unverblümten Unterstellung von Lehrkräften, dass Heimkinder nicht bildungsfähig seien. Und sie schützt sich schliesslich auch vor dem schmerzlichen Misstrauen gewisser gutsituierte Kreise, wenn sie, aus dem sozialen Kellergeschoss kommend, anspruchsvoll und beharrlich danach strebt, in derjenigen Gesellschaft endlich als vollwertiger Mensch anerkannt zu wer-den, in der sie zuvor verachtet wurde.

Nach einzelnen Abschnitten, in denen sie über schwierige und ernste Vorkommnisse berichtet, stellt sie Fragen, öffnet dem Leserkreis damit Reflexionsfenster, damit sie prüfend und vergleichend über ihre eigenen Lebensgeschichten nachdenken können. Mit oder ohne Absicht wirkt Annemarie Itens «Mein Leben bitte in Papier einpacken» oft als Einladung zum Schreiben über sich selbst.

Wer so schreiben kann, mut-masse ich, hat gelernt, mit den in ihrer Kindheit und Jugendzeit erfahrenen Verletzungen, Verlustängsten und Erniedrigungen umzugehen, auch wenn sie diese Erfahrungen wohl nicht gänzlich überwunden hat. Kann man überhaupt solches Leiden je ganz überwinden? Was sie in ihrem Leben erfahren hat und nun darüber zu berichten weiss, und was sie an die Leserschaft an Botschaften vermittelt, macht sie beispielhaft und das Buch so lesenswert. Dr. Roland M. Begert (Liebefeld/BE)

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