Der Landenberger-Plan von Einsiedeln – davor und danach
Von Professor Werner Oechslin
Nach den frühen Ansichten (Starck, Merian), die alle das Dorf Einsiedeln vor dem Klosterneubau des frühen 18. Jahrhunderts zeigen, und dem einzigen sogenannten Sidlerplan von 1868, der immerhin verlässlich Haus um Haus auflistet und mit Nummern und Namen versieht, ist die Vogelperspektive Landenbergers von 1912 ein ausserordentliches Dokument, das das Dorf vor dem ersten Weltkrieg in dem Moment zeigt, in dem es begann, städtische Formen anzunehmen.
Doch danach ist wie andernorts ein organisches Wachstum – durch Wirtschaftskrise nach dem Krieg und später durch eine «städtebaulich» nicht interessierte «Moderne» – abgebrochen und nie wieder aufgenommen worden. Ein Blick auf die Entwicklung Einsiedelns «vor und nach» dem Landenbergerplan ist deshalb besonders aufschlussreich und aus heutiger Sicht durchaus aktuell und nützlich.
«Hie buwet sant meinrat die zelle …» Folgt man der Meinrads-Legende, die so auffällig und prominent in dem sogenannten Blockbuch (um 1466) zur Darstellung gebracht worden ist, so ist im Grunde genommen der aus der klösterlichen Gemeinschaft der Reichenau schrittweise in den «Finsteren Wald» gezogene Eremit der erste Siedler: «Hie buwet sant meinrat die zelle …». Und Benno, der dem Eremitenleben Meinrad nacheiferte und der Domprobst von Strassburg Eberhard, der dann 934 das Benediktinerkloster gründete, werden in der Murerschen «Helvetia Sancta» (1648) inmitten einer riesigen Baustelle abgebildet. Mönche bauen, wie es auch Urich Wytwyler in seiner «Histori» Meinrads darstellt. «Cum magno appartu» liest man zum Auftritt Eberhards; er kam mit Handwerkern, Bauleuten und allem, was man zum Siedeln braucht.
«Zuerst ein ungeordneter Haufen» Und siedeln heisst bauen. Die äussern Bedingungen haben dabei bis heute das Dorfbild Einsiedelns geprägt. Die erhöhte Lage des Klosters in sicherem Abstand vom Gewässer der Alp und gleichwohl vom Dorfbach und dem Wänibach bedient, sodass sich Leben entfalten und Gewerbe entwickeln konnten. Wo dies zusammenfliesst, bildet sich dann ein Brückenkopf und in der Falllinie vom Kloster zum Fluss, dem kleinen Gewässer entlang, entsteht ein Dorf, zuerst ein ungeordneter Haufen von Häusern, die nur sehr langsam zusammenwuchsen, um am Ende ein kompakt erscheinendes Dorf zu bilden. Die natürliche Lage am Wasser und das Kloster, oben und unten, später übersetzt in «Oberdorf» und «Unterdorf », bestimmen die weitere Entwicklung und begründen die bauliche Vielfalt von Form und Gestalt. Um Selbständigkeit und eigene Rechte bemüht Dabei hat das alles überragende Kloster sein Eigenleben, abgeschirmt auf dem erhöhten Plateau, durch eine hohe Treppe – wie jetzt wieder – getrennt; man gelangt von Norden durch ein Portal in den Klosterbereich, was die bekannte Darstellung der Chronik von Diebold Schilling (1513) deutlich zeigt. Das Dorf bleibt nichtsdestotrotz in engster Bindung und Abhängigkeit zum Kloster, westlich an dessen Fuss ausgebreitet und bemüht sich um Selbständigkeit und eigene Rechte. Diese waren keineswegs gering, wenn man erinnert, wie lange der Streit um die Nutzrechte auf dem Brüel andauerte und den von Abt Augustin II. Reding anvisierten Neubau des Klosters in den Anfängen störte. Das Dorf lebt zwar bis zur Franzosenzeit in vollständiger Abhängigkeit des Klosters, tritt aber gleichwohl als eigenständiges Gemeinwesen auf.
Wir wissen vor allem von Störungen Wir wissen viel zu wenig. Odilo Ringholz, der in seinem monumentalen Werk zur Klostergeschichte (1904) den Rahmen auf die «Kultur-, Rechts- und Wirtschaftsgeschichte» ausdehnen wollte, erinnerte einleitend: «Man darf nie vergessen, dass das vorhandene Urkundenmaterial kein treues Bild von den gewöhnlichen Zuständen bieten kann, es ist in der Regel nur der Ausfluss von vorgekommenen Störungen.» Eine solche «Störung» war der Dorfbrand von 1680, dessen Dokumentation eine Fülle von Informationen zu Hausgeschichten, zu den häufigen Handänderungen, Einzelheiten und Zufälligkeiten des Lebens und auch zu dem von Abt Augustin an die Hand genommenen Wiederaufbau mitüberlieferte, so wie das Anja Buschow Oechslin in ihrer Studie zum Dorfbrand (2013) dargelegt hat.
Das Dorf, das entlang der Hauptachse und vor allem im oberen Teil auch geschlossene Gebäudezeilen aufwies, ansonsten aber insbesondere aus einem dichten Netz von Zwischenräumen, «Durchgängen», Gassen bestand, erhielt nun – vom Kloster als Brandschutz gedacht – einen riesigen offenen Zwischenraum, die Voraussetzung für die spätere imposante Platzanlage. Es brauchte nur jemand diese Chance zu entdecken, was dann im Vorfeld des mühsam beschlossenen Gesamtneubaus Anfang 1703 geschah. Voraussetzung war jetzt die Umorientierung des Klosters nach Westen, das nun eine brei-te Fassade erhalten sollte. Und mit dem Auftreten des früheren Generals des österreichischen Kaisers und Bologneser Gelehrten Luigi Ferdinando Marsigli war dann die Idee eines ausladenden Vorplatzes geboren und wurde ein knappes halbes Jahrhundert später endlich realisiert.
Langsam bildete sich in einer lockeren Abfolge von Bauten das Gegenüber zum Kloster ab; Querachsen wie die Strehlgasse (Benzigerstrasse) und Kronenstrasse blieben lange nur auf der westlichen Seite bebaut und richteten sich wie viele einzelne Bauten auf das Kloster. Allmählich erhielten vorzüglich Bauten im Oberdorf modernere, städtische Formen und Einsiedeln entwickelte sich zum «Flecken» und zur Kleinstadt.
Benziger – Motor der Einsiedler Entwicklung
Es bedurfte – nach dem Dorfbrand von 1680 – eines zweiten einschneidenden Ereignisses, um grössere Veränderungen auszulösen und nach dem Klosterplatz in ähnlich radikaler Weise die Dorfstruktur aufzubrechen und zu verändern. Eine solche Entwicklung ging letztlich von den Folgen der Französischen Revolution, der nachfolgenden Privatisierung klösterlicher Tätigkeiten und Betriebe und des dadurch ausgelösten wirtschaftlichen Aufschwungs aus, der gleichwohl – dank der stark gewachsenen Pilgerei – mit dem Kloster aufs Innigste verbunden blieb.
Motor der entsprechenden Entwicklung waren Familie und Betrieb Benziger. Sie waren Besitzer einer stattlichen Anzahl von Gebäuden in bester Lage, brauchten zusätzlichen Produktionsraum und Lagerstätten und sorgten sich um ihre Angestellten, die Wohnraum benötigten.
Auf dieser Grundlage entstand im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts eine grossangelegte Planung, die entlang der bisherigen Ausdehnung des Dorfes zwischen Kloster und Brückenkopf die gesamte Breite des Dorfes, der sogenannten Adlermatte, zum Siedlungsraum erklärte und verdoppelte.
Der von Pater Wolfgang Sidler entworfene und von C. Steinauer 1868 gezeichnete erste grundrissliche Plan des Dorfes zeigt die bauliche Ausdehnung Einsiedelns zur Jahrhundermitte und übrigens auch die unterschiedliche Bauweise in Holz und Stein. 1880 publizierten dann «Gebr. Carl und Nicolaus Benziger» einen Plan, der mittlerweile auch die Pläne der «Bahngesellschaft » zu Bahngebiet und Sagenplatz, die Angaben der Basler-Feuerversicherungs-Gesellschaft zu Langrüti und Zürcher Strasse und nun eben auch die in der jüngsten Revision von 1879 benutzten Planungen der Gebrüder Benziger, «derzeit Besitzer der Adlermatte und des Theiles Furrenmatte vom Bahngebiet bis zur Halde», umfasste.
Während im «alten» Bereich des Dorfes, vornehmlich im Oberdorf und an der Klosterfront, eine erstaunlich grosse Zahl von Bauten ihre Erweiterung und städtische Form erhielten, schloss sich im Norden gemäss damals üblicher rechtwinkliger Teilung ein grosses Planungsgebiet an, dessen Ausdehnung übrigens noch bis in moderne Zeit als absolut ausreichend erschien. Eine radikale Umorientierung des Dorfes Dazu bestehen eine grosse Zahl von Plänen; die erste und stärkste Bautätigkeit betraf im unmittelbaren Anschluss an die im Oberdorf von der schnell expandierenden Firma Benziger benutzten Häuser jene obere Zone, während im unteren Raster vorerst eigentlich nur ein einziges Geviert bebaut wurde. Doch die Planung war gemacht, die Strassenzüge und Anbindungen definiert. Und dies betraf nun auch noch den anderen grossen planerischen Schritt im Bahnhofgelände, was im Grunde genom-men eine radikale Umorientierung des Dorfes und seiner Erschliessung von oben nach unten zur Folge hatte.
Es war die erste und letzte umfassende Planung, die Einsiedeln erlebte. Der radikale Bruch des ersten Weltkrieges hat den damaligen «Boom» jäh abgebrochen und es gab danach keinen Anschluss und keine irgendwie geartete Fortsetzung; für Gesamtplanungen, wie sie die mächtige Benzigerfamilie einleiten konnte, gab es seither keine Chance. Das Dorf war dabei, sich in eine Kleinstadt zu verwandeln Vor Ausbruch des Krieges 1914/18 war Einsiedeln gerade dabei, sich in eine Kleinstadt zu verwandeln. Auch diese Entwicklung hat sich nicht fortgesetzt – trotz des stark gewachsenen Bauvolumens. Bis 1914/18 galten im Grunde genommen die weitverbreiteten Massstäbe des französischen «embellissement » («Stadtverschönerung»), deren Prinzipien die städtebaulichen und die baulich-architektonischen Aspekte in bester Synthese vereinigten: Eingangssituation, Plätze, Strassen und dann die Gebäude in einem Wurf! Man wundert sich heute über frühere Einheitlichkeit und formale Disziplin von alten Städten; und man vergisst häufig, dass sich dahinter Planung, Regelwerk und der intelligente Umgang damit verbergen.
Derweil hatte sich Einsiedeln in erstaunlicher Weise entwickelt, was später fast unbemerkt den Aufruf «das Dorf im Schatten des Klosters» notwendig machte. Aus der «Streusiedlung », einem ungeordneten Haufen von Häusern und wenigen geordneten Zeilen, war beinahe ein städtisches Gebilde entstanden. Das ist der Moment des Landenbergerplans, der Einsiedeln just in dieser Situation aus der Vogelschau abbildete (Fortsetzung folgt).
Anfang 2024 wird in der Bibliothek Werner Oechslin eine Ausstellung zu Landenberger aus dem durch Franz Breu-Gyr an die Stiftung gelangten Nachlass folgen.
Zum Autor
Werner Oechslin, geboren 1944, studierte Kunstgeschichte, Archäologie, Philosophie und Mathematik in Zürich und Rom, lehrte am MIT, an der TU Berlin, in Bonn, in Harvard, in Shanghai und an der ETH Zürich, wo er von 1986 bis 2006 das Institut für Geschichte und Theorie der Architektur neu aufbaute und leitete. Er ist Gründer der Bibliothek Werner Oechslin in Einsiedeln (www.bibliothek- oechslin.ch).