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Nähe auf Distanz oder meine Wahrnehmung des Welttheaters

Nähe auf Distanz oder meine  Wahrnehmung des Welttheaters Nähe auf Distanz oder meine  Wahrnehmung des Welttheaters

Wer gegenüber dem Kloster wohnt, so wie ich, kann sich in diesen Wochen der Faszination des abendlichen Geschehens kaum entziehen. Ich bin zwar nicht dabei, aber mittendrin. Wenn ich an den Spieltagen zu Hause bin, mache ich meine Beobachtungen, fiebere mit und verfolge das Welttheater, auch wenn mir die Tribüne Süd den Blick auf die Bühne verwehrt. Ich sehe nur Fotos von Mitwirkenden und entdecke fast täglich Gesichter von Menschen, die ich zwar kenne, aber bisher nicht erkannt habe. Sie sind nach ihren Vornamen alphabetisch jeweils von oben nach unten geordnet. So kommt Sandra vor Sandro und Rosemarie vor Rosmarie.

Vorboten

Die Vereinnahmung beginnt im Lauf des Nachmittags, wenn ich plötzlich elektronische Signale vernehme, die wie volle Wassertropfen tönen. Die Verantwortlichen für die Technik machen offenbar einen Sound-check. Aber sie testen auch die Scheinwerfer, die jetzt das ganze Farbspektrum aufleuchten lassen. Manchmal sind Geräusche oder ein paar Takte Musik zu hören, die dann wohl am Abend eingespielt werden. Ausserhalb der beiden Tribünen, auf dem geschrumpften Klosterplatz, stelle ich eine spezielle Stimmung fest. Vielleicht bilde ich mir das auch nur ein, weil sich unter die Ortsansässigen, die Tagestouristen und die Pilger auch Leute mischen, die am Abend das Welttheater besuchen.

Im «Chez Renate» hat sich eine Gesellschaft zum Apéro eingefunden, auf der Terrasse des «Klostergartens» sind schon fast alle Tische besetzt. Regisseur Livio Andreina, der keine Vorstellung zu verpassen scheint, sitzt entspannt beim Brunnen vor dem Weisswindgarten und wartet offenbar auf Leute, die von ihm hinter die Kulissen geführt werden wollen. Das Wetter präsentiert sich, wie lange Zeit üblich, etwas durchzogen. Ich konsultiere die App von SRF Meteo: Ausgerechnet ab 20 Uhr Regen. Der dann aber glücklicherweise doch nicht fällt.

Der Welttheater-Laden ist schon geöffnet und wartet auf Kundschaft. Zurzeit wird er jedoch nur von Leuten in schwarzen T-Shirts mit dem Schriftzug «Staff» belagert. Das ist zwar englisch, aber very useful, denn so musste man nicht die einen T-Shirts mit «Mitarbeiter» und die anderen mit «Mitarbeiterin » oder alle etwas umständlich mit «Mitarbeitende Person» bedrucken. Ohne beschriftetes T-Shirt taucht Claudia Capecchi auf, die vielbeschäftigte Produktionsleiterin, die überall nach dem Rechten sieht.

Requisiten Schon vor sieben Uhr fallen mir die Mondheber in ihren blauen Latzhosen auf. Sie stellen den knallgelben Pick-up bereit und schauen, ob sich der Mond, der in einem kleinen Zelt versteckt ist, schön voll präsentiert. Allgegenwärtig sind die im Stück so wichtigen Mitglieder des Chors, die in ihren Fräcken und farbigen Hemden oder Blusen in Gruppen zusammenstehen. Bauern und Bäuerinnen kommen mit Heurechen, andere bringen ihre komplizierteren Requisiten in Stellung. Der Bassist stösst sein Instrument auf Rädern bis zu den Arkaden hoch, wo das Orchester untergebracht ist, von oben kommt der kleine pfiffige Trompeter in Uniform mit Hütchen, der beim Einzug der «Welt» ganz vorne mitmarschieren wird. Das «Chälbli» ist noch nicht ganz Tier, denn es hat den (Kalbs)Kopf noch nicht über den (Kinds)Kopf gezogen.

Während der 100-jährige König bereits so gekleidet ist, wie er auftreten wird, also auch seinen wärmenden Plüsch-Umhang nicht abgelegt hat, wirkt der 100-jährige Reiche ohne Jacke etwas ärmlich. Es ist ihm offensichtlich zu heiss in seinem Kostüm. Das «Grosse Viech» in der Gestalt einer Gottesanbeterin wird in Position gebracht. Wie hatte es nur in den Arkaden übernachten können? Von dort erklingen jetzt über längere Zeit ein paar Musikstücke. Probt das Orchester oder pröbelt der Tontechniker?

Auch wenn ab viertel nach acht in Intervallen ein Gong wie im Kino ertönt, fühlen sich viele Besucherinnen und Besucher des Welttheaters überhaupt nicht gedrängt, ihre Plätze einzunehmen. Aber dann bilden sich vor den Eingängen plötzlich Schlangen, und es sieht nicht danach aus, dass das Spiel pünktlich beginnen kann. Von der Tribüne Nord überblicke ich einen grossen Teil der Sitzplätze, die jetzt besser besetzt sind als im Juni.

Anfänge

Das Stück beginnt mit Hupen und einem italienischen Schlager aus dem scherbelnden Autoradio. Ich kenne ihn, ganz sicher, aber ich komme nicht drauf, wie er heisst. Stammt er aus den 50er-Jahren, aus der Zeit von «Volare» und «Arrivederci Roma»? Ich will es wis-sen und beginne zu recherchieren. Meine Fährte war falsch, es ist keine canzone, sondern eine canción und heisst «Luna de España». Das Lied, gesungen von Juan Legido in der Sprache Calderóns, ist vielleicht eine Anspielung auf die letzte Szene mit dem Mond. Es stammt aus einer musikalischen Komödie von 1945 mit dem Titel «Hoy como ayer», auf Deutsch «Heute wie gestern». Passt gut zum 100-Jahr-Jubiläum. Und dann beginnt das Stück zum zweiten Mal, jetzt mit dem Glockengeläute, das so fein und unauffällig zu bimmeln anfängt wie andere Geläute während des Tages, die jetzt bei mir immer so etwas wie einen Pawlowschen Reflex auslösen: «Ah, die 100-Jährigen laufen ein!» Aber nun beginnt es wirklich: Aus der Ferne sehe ich einen Teil des Klosterportals, aus dem der Autor schreitet, der den Abend gleich beenden will: «S’isch abgseit, s’Wälttheater.» Jetzt, nach dem Auftritt der Kinder Emanuela und Pablo, beginnt das Stück zum unwiderruflich letzten Mal. Der Autor erfüllt den Wunsch Emanuelas, zusammen mit Pablo das Welttheater spielen zu können, und gibt das Stichwort für die «Welt» und die Marching Band: «Pass uf! Es fangt aa!» Dieser musikalische Auftakt zieht mich voll ins Stück rein, und ich sehe vor meinem geistigen Aug das Gefolge der «Welt» in den fantasievollen Kostümen von AnnaMaria Glaudemans.

Ohrwürmer Die junge Emanuela und der junge Pablo kommen von rechts oben Richtung Frauenbrunnen gelaufen und machen Lockerungsübungen, damit ihnen der Pas de deux auf dem Klosterplatz gelingt. Sie lösen Emanuela und Pablo als Kinder ab, die nach ihrem Auftritt in andere Rollen und Kostüme schlüpfen. Einen Rollen- und Kostümwechsel vollziehen viele im Spielvolk. Auch «Die Dürre auf Stelzen» mit dem Didgeridoo. Gewinnt der Darsteller den Wettlauf gegen die Zeit? Denn jetzt muss er, unterstützt von anderen Mitwirkenden, so schnell wie möglich einen Teil des Kostüms ausziehen, sich der Stelzen entledigen und an den Ilgen-Ständen vorbei zu Kaiser Heinrich spurten, um rechtzeitig den Kopf des «Grossen Viechs» in die Höhe stem-men zu können. Geschafft! Bis jetzt betrat das Tier die Bühne nie kopflos.

Pablo ist noch lange nicht unter dem Boden, da fällt mir schon eines der wartenden Klageweiber auf. Ich freue mich auf die Musik, mit der Bruno Amstad das Schattenreich vertont hat, und ich sehe die verschleierten Gestalten hinter dem Tod in der berührenden Choreografie von Graham Smith vor mir. Die Lieder sind inzwischen zu Ohrwürmern geworden, die mir tagsüber nachlaufen. Aber was singt der Chor überhaupt? Einiges verstehe ich, vieles nicht. Auch beim ersten Auftritt der «Welt» höre ich nur «horizon» heraus. Wo kann ich die Texte nachlesen? Auf der Website nicht und im Textbuch von Autor Lukas Bärfuss auch nicht. Am Schluss wie immer tosender Applaus und Bravo-Rufe. Auch das nächste Mal schaue ich hinüber und bin wieder ganz Ohr.

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