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«Bei aller dankbaren Bewunderung für das seit 1924 Geleistete»

Am kommenden Donnerstag, vor genau 100 Jahren, fand die Premiere des ersten Einsiedler Welttheaters statt. Hier einige Ausschnitte aus dem Buch «100 Jahre Welttheater in 100 Geschichten».

Im gleichen Jahr, in dem die Welttheatergesellschaft Einsiedeln mit dem Innerschweizer Kulturpreis ausgezeichnet wurde, 1974, beauftragte ihr Vorstand die beiden Theaterfachleute Hans E. Braun und Paul Kamer, sich vertieft mit der Zukunft des Freilichtspiels auseinanderzusetzen. Nach 50 Jahren Calderón in Einsiedeln wollten sich die Verantwortlichen also nicht nur feiern lassen, sondern die Tradition auch kritisch hinterfragen. Braun hatte als Pater Heinrich Suso im hiesigen Kloster über «Das Einsiedler Wallfahrtstheater der Barockzeit» doktoriert, Kamer in seiner Zeit als Priester und Lehrer am Kollegium Schwyz für das Spielvolk von Einsiedeln «Die Bettlerin» geschrieben. Beide waren wieder im Laienstand, als sie 1976 das Resultat ihrer Analyse vorlegten. «Es wäre angesichts der zahlreichen ernsten Bedenken ein mutiger und durchaus nicht kulturfeindlicher Schritt, die Calderón-Spiele – bei aller dankbaren Bewunderung für das seit 1924 Geleistete – endgültig abzusetzen », stand in dem schlanken Papier. Eine Neuauflage des Spiels stünde weiter «unter dem Druck der organisatorischen, finanziellen und personellen Schwierigkeiten». Neben den genannten Problemen manifestierte sich auch ein inhaltliches. Am Tag der Premiere der zehnten Spielzeit 1970 hatte das «Theaterkollektiv Alternative» gegen «Das grosse Welttheater» protestiert, das seiner Meinung nach nicht mehr zeitgemäss war. Die jungen Studierenden aus Deutschland und der Schweiz kritisierten, dass es das Bild einer star-ren, gottgegebenen Gesellschaft vermittle, in der alle ihre Rollen zugesprochen erhielten und zeit ihres Lebens das Rollenfach nicht wechseln könnten. Durch persönliche Leistung nicht und schon gar nicht durch soziale Gerechtigkeit. Für seine Entbehrungen im Diesseits werde dem Menschen dafür Trost und reicher Lohn im Jenseits versprochen. Kritische Überlegungen dieser Art wären 1924, im Jahr der ersten Aufführungen, undenkbar gewesen. Der Einsiedler Kunsthistoriker Linus Birchler, der Klostervorsteher Abt Ignaz Staub und der deutsche Schauspieler Peter Erkelenz, welche die Tradition begründet hatten, identifizierten sich als tiefgläubige Katholiken mit der Aussage des barocken Spiels. Auch die Presse, welche die Inszenierung und die Leistung des Ensembles rühmte, hob den religiösen Gehalt des Stücks hervor. Und das Publikum stimmte noch jahrzehntelang am Schluss des Spiels mit den Mitwirkenden in das Lob Gottes ein: «Wie du warst vor aller Zeit, so bleibst du in Ewigkeit.» Auf der Tribüne sass 1924 auch der 22-jährige Oskar Eberle, Student der Theaterwissenschaft und Literaturgeschichte. Drei Jahre später sinnierte er in einem Brief über seine berufliche Zukunft: «Wenn man mich nach Einsiedeln beriefe, die Calderón-Spiele zu leiten und ich hätte Erfolg: Vielleicht würde ich hernach Regisseur.» Die erträumte Berufung wurde Tatsache, und von 1935 bis 1955 führte Eberle auf dem Klosterplatz viermal hintereinander Regie. Mit viel Volk und einem opulenten Inszenierungsstil sorgte er dafür, dass die Geist-lichen Festspiele, wie sie nun hies-sen, zu einem Höhepunkt der Einsiedler Theatertradition wurden. Kurz vor der Premiere der Tellspiele Altdorf, die Oskar Eberle 1956 zum ersten Mal leitete, starb er an den Folgen einer Blinddarmentzündung. Auf dem Sterbebett hatte er noch gewünscht, ins Gewand des Bettlers aus Calderóns Spiel gekleidet zu werden.

Sowohl in Altdorf als auch in Einsiedeln wurde Erwin Kohlund sein Nachfolger. Eigentlich hätte der ers-te protestantische Regisseur auf dem Klosterplatz die Spielzeit mit einer neuen Übersetzung des katholischen Theologen Hans Urs von Balthasar in Angriff nehmen sollen. Diese lag aber nicht rechtzeitig vor, sodass Kohlund bis zu seiner dritten Inszenierung 1970 beim Text von Joseph von Eichendorff blieb. Und um den Text, um das Wort, um die Botschaft ging es ihm vor allem. Sein Welttheater sollte – wie er es selbst einmal formulierte – «nicht irgendein prächtiges Festspiel sein, sondern im wahrsten Sinne Gottesdienst, der vor die Kirche hinausgetragen wird». Zu einer neuen Spielzeit wurde das Publikum erst wieder nach elf Jahren und einer vertanen Chance eingeladen. Als Hans E. Braun und Paul Kamer 1976 ihre Überlegungen zur Zukunft des Welttheaters darlegten, sprachen sie nicht nur von der Möglichkeit, dieses «endgültig abzusetzen », sondern zeigten auch auf, wie es zu retten wäre. Wohl kaum mit einer neuen Übersetzung, meinten sie: «Weit eher als zu einer Bearbeitung des bisher gebotenen Stoffes raten wir aber zu einer radikalen Neufassung eines Welttheaterspiels, das sich einer neuzeitlichen Fragestellung aussetzte und eine neuzeitliche Sprache und Gestaltung wagte.» Für 1980 hätte es fast «zu einer Bearbeitung des bisher gebotenen Stoffes» gereicht. Der Regisseur Werner Düggelin wollte die Herausforderung mit einer Mundartfassung von Hansjörg Schneider und einer Inszenierung annehmen, die eher dem Volkstheater als dem barocken Schauspiel verpflichtet gewesen wäre. Als ihm der Widerstand gegen ein Welttheater in der Sprache der Einsiedler Bevölkerung als zu stark erschien, zog sich Düggelin früh wieder zurück. Wenn die Zeit nicht einmal für eine schweizerdeutsche Übersetzung reif war, verwundert es im Rückblick nicht, dass man sich erst recht nicht «zu einer radikalen Neufassung» mit «einer neuzeitlichen Fragestellung» durchringen konnte.

Die Aufführungen des Jahres 1981 unter der künstlerischen Leitung von Hans Gerd Kübel und die beiden Spielzeiten 1987 und 1992 mit dem Regisseur Dieter Bitterli hatten in der Rückblende auch die Funktion, die Jahrzehnte zwischen Resignation und Aufbruch zu überbrücken. Wären sie nicht zustande gekommen, hätte die Einsiedler Welttheater- Tradition vielleicht ein vorzeitiges Ende gefunden. Kübel trat mit einer neuen Übersetzung an und betonte den allegorischen Charakter der irdischen Figuren stärker, indem er sie je durch mehrere Personen darstellen liess. Bei Bitterli fielen neue ästhetische Akzente auf und 1987 ein üppiges Bühnenbild.

Zur «radikalen Neufassung» kam es erst im Jahr 2000, als Thomas Hürlimann, Absolvent der Stiftsschule Einsiedeln, mit dem Regisseur Volker Hesse das «Einsiedler Welttheater nach Calderón» auf den Klosterplatz brachte. Zum ersten Mal war ein zeitgenössischer Autor beauftragt worden, auf der Grundlage des «Grossen Welttheaters» ein eigenes Stück zu schreiben. In seiner Bearbeitung wollte Hürlimann nicht, wie der Spanier, Antworten geben, sondern Fragen stellen. Das tat er auch 2007 in seinem zweiten «Einsiedler Welttheater», erneut in der Regie von Volker Hesse. Es spielte wiederum in der Gegenwart und zeigte eine Welt, mit der es zu Ende ging.

2013 stellte Tim Krohn mit Regisseur Beat Fäh unseren Gesundheitswahn, unseren Körperkult, den Wunsch nach ewiger Jugend und die Furcht vor dem Tod ins Zentrum, unser Streben nach dem ewigen Leben nicht im Jenseits, sondern im Diesseits. Ein Jahr später wurde das Einsiedler Welttheater nach 40 Jahren noch einmal ausgezeichnet, dieses Mal mit dem Kulturpreis des Kantons Schwyz.

Jetzt, im Jubiläumsjahr, schreiben der Autor Lukas Bärfuss und der Regisseur Livio Andreina die Erfolgsgeschichte des Welttheaters weiter. Unterstützt, ja getragen werden sie vom Spielvolk, von den Mitwirkenden auf der Bühne und hinter den Kulissen. Noch heute gilt, was vor 100 Jahren der Organisator der ersten Spielzeit als Argument für das Wagnis Welttheater vorbrachte. Franz Kälin sagte damals, «das Einsiedlervolk sei theaterliebend und begeisterungsfähig für alles Ideale».

Unter dem Titel «100 Jahre Welt-theater in 100 Geschichten» ist von Walter Kälin das «Schwyzer Heft Nr. 115» erschienen, im Auftrag der Welttheatergesellschaft. Es ist erhältlich im Spielbüro des Welttheaters (www.einsiedlerwelttheater. ch), beim Amt für Kultur des Kantons Schwyz (kulturfoerderung. afk@sz.ch) oder in der Buchhandlung Benziger, Einsiedeln.

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