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«Einsiedeln ist gebaut, aber wie?»

«Einsiedeln ist gebaut, aber wie?» «Einsiedeln ist gebaut, aber wie?»

Ein Podiumsgespräch in der Bibliothek Werner Oechslin und ein Dorfspaziergang widmen sich dem «Weiterbauen in den Dorfkernzonen»

Wie kann das Klosterdorf in der Kernzone weitergebaut werden? Werner Oechslin schildert die Veränderungen im Ortsbild von Einsiedeln: «In den letzten Jahrzehnten sind viele historische, im Kern zum Teil noch vom Ende des 17. Jahrhunderts stammende Gebäude durch Neubauten ersetzt worden.»

Wie hat sich das Ortsbild im Klosterdorf verändert?

Ortsbilder verändern sich immer. Deshalb geht es darum, das Gefüge von alt und neu als Ganzes zu betrachten und daraus eine bauliche Qualität zu bilden. In Einsiedeln fand wie andernorts am Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs – mit dem wirtschaftlichen Aufschwung – die alles entscheidende Entwicklung statt, die im Grunde genommen Einsiedeln noch immer prägt. Das Oberdorf und der obere Teil der Hauptstrasse erhielten ihre kompakte, «städtische» Bauweise mit überhöhten, klar proportionierten Baukörpern und Mansardendächern und gegliederten Fassaden. Zudem entstanden «Villenviertel» mit einer stattlichen Anzahl architektonisch gehobener Bauten. Wie hat sich das Unterdorf entwickelt?

Das Unterdorf blieb in seiner offenen, «lebendigen» Gestaltung dem Gewerbe zugedacht. Am alten Brückenkopf kam der neue Bahnhof zu liegen. Doch daraus ist bis heute kaum ein in sich geschlossenes Quartier entstanden. Es fehlte an planerischen Entscheidungen, auch diesen zweiten, andersartigen und deshalb bereichernden, wichtigen Bereich des Dorfes ins Ganze einzufügen.

Ist Einsiedeln gebaut?

Ja, Einsiedeln ist gebaut; das kann man so sagen. Aber die entscheidendere Frage ist wie? Wenn bei einem gutproportionierten Baukörper Fassadengliederungen verschwinden, wenn «moderne» Sockel unangepasst unter die Bauten geschoben werden, dann ist meist schon ziemlich alles verspielt. Das Dorf war vor dem Ersten Weltkrieg drauf und dran, städtische Formen anzunehmen. Doch danach ist wie andernorts ein organisches Wachstum – durch Wirtschaftskrise nach dem Krieg und später durch eine «städtebaulich» nicht interessierte «Moderne» – abgebrochen und nie wieder aufgenommen worden. Es gab damals die Weitsicht, und es gab auch ganz konkret die offenen Räume – für eine Weile. Man war vor 1914/18 drauf und dran, dem Dorf nach damals gültigen städtebaulichen Prinzipien einen städtischen Anstrich zu verleihen. Der Plan Landenbergers aus dem Jahr 1912 bildet diesen Zustand ab.

Landenberger empfahl, das Dorf als Ganzes zu denken. Ist das gemacht worden in Einsiedeln? Landenberger empfahl, neben der grossflächigen, das Dorf im nördlichen Teil beinahe verdoppelnden Benziger-Planung auch insbesondere den alten Dorfkern ins Auge zu fassen. Es sollte nach Massgabe des Wachstums der gesamten Siedlung auch der Kern aufgewertet und verbessert werden. In seinem Plan von 1912 hob er die vorhandenen offenen Räume, die Strassen und Plätze hervor: Er unterstrich deren Bedeutung für das städtebauliche Ganze. War mit der Benziger-Planung in erster Linie an Erweiterung und an das lange gar nicht eingetretene Wachstum und vornehmlich an Wohnungsbau gedacht, so ging es Landenberger in grundsätzlicher Weise um städtebauliche Qualitäten: Er öffnete den Blick auf die bestehenden öffentlichen Räume und entwickelte daraus nicht nur städtische Architektur, sondern ein ganzes urbanes, vorerst als «Flecken» definiertes Gebilde mitsamt den Ausfallstrassen. Nach welchen Regeln ist gebaut worden?

Bauen unterliegt dem Regelwerk der jeweiligen Baugesetze. In den historisch gewachsenen Ortskernen gelten jedoch noch weitere Kriterien, die mit Vorschriften und Einschränkungen einhergehen können. Sie sind heute im ISOS – Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz – und in den vom Bezirk erlassenen quartiergemäss angepassten Leitbildern enthalten. Früher war das aber ganz anders! Noch in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gab es weder Regeln noch Baureglemente: Respektive die wenigen Regelungen wurden einfach nicht beachtet. Es wurde abgebrochen, oft sehr rücksichtslos, und beliebig verändert und neu gebaut, auch an sensibelsten Stellen der sogenannten Kernzone. Zuvor und insbesondere vor 1918 wurden bestqualifizierte Architekten – so auch aus dem Umfeld des weltweit hochbedeutenden Gottfried Semper – beigezogen.

Was ist falsch gelaufen?

Der Architektentitel ist in der Schweiz nicht wie andernorts geschützt, darunter kann die Kompetenz der Architekten sehr lei-den. Und wenn dann noch das Unverständnis von Bauherren dazukommt und ein Verantwortungsgefühl für Baugestaltung zugunsten des Ganzen des Dorfes fehlt und stattdessen blanke Gewinnsucht vorherrscht, ist die Katastrophe perfekt. Die einseitige, politisch und von der Bauwirtschaft durchgesetzte maximierte Verdichtung hat in den letzten wenigen Jahrzehnten in der ganzen Schweiz die Situation nur verschlimmert, sodass es jetzt doch langsam auffällt und in die öffentliche Kritik – wie gerade jetzt im Magazin der «NZZ am Sonntag» unter dem Titel «Seelenlose Schweiz» – Eingang findet.

Was hätte man anders machen können?

Der Sinn für Bauqualität ist irgendeinmal der fehlenden Kompetenz und dem Eigennutz zum Opfer gefallen. Es betrifft den fehlenden Sinn für das gesamte Baugefüge, aber auch die lange Zeit nicht oder kaum wahrgenommene politische Verantwortung. Planung ist ein Fremdwort! Man hat hier wie anderswo einfach an der Peripherie weitergebaut und sich eine kleine Agglo geschaffen – und dabei die wichtigsten Entscheidungen (zum Verkehrsfluss beispielsweise) verpatzt. Auch die Denkmalpflege hat sich lange kaum für das Dorf interessiert. Mein Aufsatz von 1974 «Das Dorf im Schatten des Klosters» hatte nur Ärger geschaffen. Es hat sich hier zwar manches verbessert, aber die Denkmalpflege ist bei uns immer noch unterdotiert.

Wer bestimmt in Einsiedeln über das Leitbild, wie die Dorfkernzone weiterentwickelt werden soll?

Vorschriften im Bauwesen sind im Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz (ISOS) und in den vom Bezirk Einsiedeln erlassenen Leitbildern enthalten. Also hat der Bezirk die Hauptverantwortung darüber inne, wie in der Dorfkernzone weitergebaut werden soll. Das macht der Bezirk auch gar nicht schlecht. Es gäbe jetzt eine optimale Situation, die Situation zu verbessern. Der Vorschlag aus der Bauverwaltung, Bauprojekte von Anfang an zu begleiten und somit auch in denkmalpflegerischen Belangen von Anfang zu beraten, statt hinterher in lange Streitereien münden zu lassen, ist ein wich-tiger und richtiger Schritt und bedarf jetzt der politischen Unterstützung. Roland Tremp hat dem Bezirk ein hervorragendes, hochkompetentes Instrumentarium zur Beurteilung architektonischer Qualität zur Verfügung gestellt: Wenn man doch wenigstens einem Grundsatz wie demjenigen folgen würde: «Massgebend ist die gewachsene Siedlungsstruktur bezogen auf die benachbarten Gebäude. » Auf diese Weise wird man aufmerksam auf Fassadengliederungen, auf Dach- und Fensterformen.

Hätte man einfach die alte Bauweise kopieren sollen?

Niemand fordert sklavische Nachahmung, aber derlei Umsicht, Einsicht und Kompetenz ist zentral, um insbesondere dem baulichen Reichtum, der auch im «geschichtlichen» Einsiedeln noch an vielen Stellen sichtbar ist, Rechnung zu tragen. Völlig falsch ist insofern eine vereinheitlichte Form von Leitbildern: Sie sind und sollen quartierbestimmt, differenziert und unterschiedlich sein und die bauliche Vielfalt stützen. Richtig ist die Festlegung gemeinsamer Kriterien, wie dies bei Roland Tremp oder auch in geschichtlichen Analysen nachzulesen ist. Das Stichwort «Kompetenz» ist in diesem Umfeld unbeliebt, doch es braucht unbedingt mehr architektonische Kompetenz in Einsiedeln und diesbezügliche Verantwortung: Denn was man da so hinstellt, überdauert uns meistens lange, und die Nachgeborenen müssen damit leben. Kompetenz und Verantwortungsgefühl ist es, was seit den Zeiten des Baubooms in den 60er-Jahren am meisten fehlt.

Hat sich damals niemand in Einsiedeln gegen die Verschandelung des Dorfkerns gewehrt? Oh doch, auch wenn der Kampf gegen die Denkmalpflege respektive gegen deren Absenz ein Kampf gegen Windmühlen war. In den 60er-Jahren mehrten sich Stimmen, die das Chärnehus abbrechen wollten. Zusammen mit Willy Ochsner gelang es, das Bauwerk zu schützen. Mit Jean Gottesmann, Klaus Korner und Max Fuchs gründeten wir die kleine Gruppe «Agere», die immerhin einen Bezirksrat entsenden konnte. Es gab damals – endlich – einige Diskussionen über so konkrete Dinge, wie die Erhaltung von Gassen und Zwischenräumen zwischen den Häusern. Das von Martin Gyr als Inbegriff unserer Dorfstruktur herausgestellte «Ofenloch», auch Arbeitsweg der vielen bei Benziger angestellten Arbeiter, ist längst – bis auf ein nichtssagendes Loch – verschwunden. Ich stellte die baulichen Qualitäten damals in Volkshochschulvorträgen vor. Von uns aus ging später das Ortsbildinventar – zu Beginn ganz zum Missfallen von Schwyz. Es ist erschreckend zu erfahren, wie gross die Feindschaft gegen all das auch noch heute ist, was mit der Qualität des Dorfbildes und der Architektur verbunden ist.

Was halten Sie davon, das Kultur- und Kongresszentrum Zwei Raben abzureissen? Ein weiteres Zeichen von Blindheit. Die Fassade des alten Heilig- Geist-Spitals bestimmt in klarer Geste und in seiner einfachen Monumentalität den Hauptplatz im Unterdorf. Geplant wurde das Vorhaben nach 1845. Und der Bau insbesondere der Fassade ist nach dem Projekt des Zürcher Stadtinspektors Johann Caspar Wolff nach 1858 umgesetzt worden. Wolff war einer der bedeutendsten Schweizer Architekten seiner Zeit. Die Geschichte dieses bedeutenden Bauwerks, welches das Einsiedler Dorfbild an einer wichtigen Stelle geprägt hat, ist durch Anja Buschow Oechslin umfassend dargestellt worden. Können Sie die Stationen des Dorfspaziergangs kurz skizzieren?

Wir starten beim Klosterplatz und bewegen uns via Kronenstrasse, wo die Häuser zum Kloster hin orientiert sind, zur Schwanenstrasse, wo schrullige Bauten das Ortsbild stören. Am Dorfspaziergang lernen wir kennen, welche Bauformen im Oberund im Unterdorf vorherrschend sind. Es zeigt sich dabei, dass, wo eine Bauherrschaft Verständnis und Interesse zeigt, gute architektonische Lösungen auch heute mitten im Dorf wie beim alten Augustiner möglich sind. Und gerade hier, «mitten im Dorf», ist architektonische Qualität besonders gefragt. Man reibt sich die Augen, wenn man sieht, was hätte entstehen können, hätte man die Bautätigkeit in den von Landenberger vorgezeigten urbanen Rahmen gestellt und städtebauliche Ziele verfolgt, statt alles, wie nun mal üblich, jeweils auf die einzelnen kleinen Baumassnahmen zu beschränken.

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