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«Um die Arten zu erhalten, muss man ihren Lebensraum erhalten»

«Um die Arten zu erhalten, muss man ihren Lebensraum erhalten» «Um die Arten zu erhalten, muss man ihren Lebensraum erhalten»

 

Die Biologen Helen und Meinrad Küchler aus Einsiedeln stehen Red und Antwort zur Biodiversitätsinitiative: «Biodiversität ist dann intakt, wenn sie sich selbst regelt und stabilisiert.

Zu Beginn des Abstimmungskampfes wurde vor allem von den Bauern eine gehässige Kampagne befürchtet. Wie erleben Sie den Abstimmungskampf?

Den gegenwärtigen Abstimmungskampf erleben wir selbst ähnlich wie frühere Kampagnen zum Thema Natur- und Landschaftsschutz. Nicht besonders gehässig, aber «politisch»: Die Gegner vermischen mit ungenauen Aussagen und Schlagwörtern Fakten und Meinungen. Mit sachlichen Argumenten dagegen anzukommen ist schwierig. Es ist uns allerdings zu Ohren gekommen, dass die Befürworter («Abweichler») unter den Landwirten undemokratisch und durchaus gehässig unter Druck gesetzt werden. Just die Bäuerinnen und Bauern sind auf eine hohe Biodiversität und Vielfalt angewiesen. Wieso sprechen sich viele Landwirte gegen die Initiative aus? Wenn der Bauernverband sagt, die Initiative widerspreche den Interessen der Landwirte, wird die Mehrheit der Landwirte diese Meinung übernehmen. Es kann sich nicht jeder Landwirt tiefgreifend mit der Materie befassen. Er muss schliesslich seinen Betrieb führen.

Der Bauernverband sagt, dass die Biodiversitätsinitiative die Selbstversorgung und Ernährungssicherheit bedrohe. Stimmt das? Der Einfluss der Biodiversitätsinitiative ist in dieser Hinsicht klein. Wenn das Ziel ist, die Selbstversorgung und Ernährungssicherheit zu gewährleisten, muss sich die Landwirtschaft (und vor allem die Subventionspolitik) darauf ausrichten: mehr pflanzliche Nahrungsmittel, weniger Futtermittel. Wenn wir das Agrarprodukt selbst essen, braucht das zehn Mal weniger Anbaufläche als für die entsprechende Menge Fleisch oder Milch. Das bedingt eine Abkehr vom Hochleistungsvieh zurück zu angepassten Tierrassen. Eine mittelfristige Option sollte auch sein, in geeigneten Lagen auf Gemüseund Getreideproduktion umzustellen. Das spart Subventionen für Futtermittel, Dünger, Antibiotika, Verwertung und Export von überschüssiger Milch und Käse, Fleisch-Absatz, et cetera. Wie steht es um die Biodiversität in der Schweiz? Aus eigener Erfahrung kennen wir am besten die Moore von nationaler Bedeutung. Dort haben wir selbst die Vegetation aufgezeichnet und auch selbst die Daten ausgewertet. Dank des rigorosen Schutzes der Moore von nationaler Bedeutung konnte ihre Fläche erhalten werden. Aber ihre Qualität hat abgenommen, das heisst, es geht ihnen immer noch laufend schlechter, weil sie wegen alten und neuen Drainagen zu wenig Wasser haben. In den Hochmooren («Mösern») hoffen wir auf eine Trendwende: Auch in unserem Kanton sind diverse Regenerationsprojekte im Gang, mit denen der Wasserhaushalt dieser Hochmoore verbessert wird. In den Flachmooren («Rieter») hingegen geschieht bezüglich des Wasserhaushalts bisher wenig. Da ist eine Trendwende nicht in Sicht. Bei den übrigen Biotoptypen (Trockenwiesen, Auen) ist der Schutz weniger rigoros. Es wird nicht einmal ihre Fläche erhalten. Noch schwächer ist der Schutz auf kantonaler und kommunaler Ebene. Da werden private Interessen «abgewogen». De facto gehen die privaten Interessen dem Schutz meistens vor. Auch da ist eine Trendwende nicht in Sicht.

Ein Drittel der Arten ist bedroht: Was ändert die Biodiversitätsinitiative an diesem Umstand?

Um die Arten zu erhalten, muss man ihren Lebensraum erhalten. Die Initiative verlangt, dass die dafür nötige Fläche und das nötige Geld zur Verfügung stehen. Nötige Fläche: Die heute unter Schutz stehende Fläche steht offensichtlich nur teilweise zur Verfügung. Die Initiative verlangt, dass für Eingriffe übergeordnete Interessen vorhanden sein müssen. Das heisst, private Interessen hätten weniger Gewicht. Nötiges Geld: Auch das für die Erhaltung der Biodiversität nötige Geld ist zum grossen Teil vorhanden, steht aber nicht zur Verfügung. Im Parlament wurde darüber diskutiert. Die Diskussion war aber bald zu Ende: «Wir haben kein Biodiversitäts-Problem» (Votum aus der Landwirtschaft).

Was bedeutet eine intakte Biodiversität konkret?

Biodiversität ist dann intakt, wenn sie sich selbst regelt und stabilisiert. Zum Beispiel braucht ein intaktes Hochmoor weder Bewirtschaftung noch Pflege. Für den Naturschützer ist wichtig, dass nicht nur der Mensch und allenfalls sein Hund oder seine Katze ein Recht auf Leben haben, sondern auch die übrigen Tiere und Pflanzen. Das sind im Fall des Hochmoors die Rosmarinheide, die Moosbeere, der Sonnentau, Torfmoose und spezialisierte Libellen (Torfmosaikjungfer, Kleine Moosjungfer). All diese Arten sind selten, weil es nur noch wenige Hochmoore gibt. Jedoch allgemein wichtig sind die «Dienstleistungen » der Natur und Landschaft, von denen wir alle profitieren. Beispiel Wald: Ein standortgerechter und naturnaher Wald ist klimaresistent und schützt bes-ser vor Naturgefahren. Beispiel Magerwiesen und Waldränder: Sie beherbergen Bestäuber und Nutzinsekten. Das geht zwar auf Kosten des Gras-Ertrages, nützt aber dem Obst- und Gemüsebau. Beispiel Boden: Ein intakter Boden lebt. Er filtert das Wasser, bevor es in die Grundwasserschicht kommt.

Bei der Initiative geht es vor allem um Flächen. Konkret: «Schutzflächen», die vergrössert werden müssen. Ist der Biodiversität denn rein mit mehr Fläche geholfen? Im Initiativtext steht, dass die für den Schutz nötige Fläche zur Verfügung stehen muss. Dass die bestehenden Schutzgebiete vergrössert werden müssen, steht nirgends, ist aber vielleicht nötig. Oder auch nicht. Wie viel Fläche wäre nötig? Es kommt darauf an, für was. Die Schweiz hat eine Konvention unterschrieben, mit der sie sich verpflichtet, dreissig Prozent der Fläche biodiversitätsgerecht zu bewirtschaften. Eigentlich sollten wir hundert Prozent der Fläche biodiversitätsgerecht bewirtschaften: Beim Düngen die Gewässerabstände einhalten, nicht auf gefrorenen Boden düngen. Das Grundwasser und den Boden nicht mit Dünger, Pestiziden und Hormonen verseuchen. Die Landschaft nicht zerschneiden und ausräumen. Zwar gibt es Vernetzungsprojekte, die der Zerschneidung und Ausräumung entgegenwirken. Doch gesamthaft gesehen ist das ein Tropfen auf einen heissen Stein. Es braucht mehr Vernetzung, und vor allem weniger Zerschneidung, bis von einer Trendwende die Rede sein kann. Das Land standortgerecht bewirtschaften: Wasserbedürftige Pflanzen kultivieren, wo es Wasser hat;. Trockenpflanzen dort anbauen, wo man nicht zuerst entwässern muss. Viehwirtschaft eher in den Bergen, in tieferen Lagen eher Gemüse und Getreide. Die Biodiversitätsinitiative kos-tet grob geschätzt 400 Millionen pro Jahr. Ist das so?

Wie viel kostet es ohne die Initiative? Gemäss Schätzungen des Bundesrats würde das Nichthandeln in der Schweiz ab dem Jahr 2050 jährlich 14 bis 16 Milliarden Franken kos-ten. Warum ist dann nicht alles klar? Weil es verschiedene Kassen sind. Wenn zum Beispiel Trinkwasser mit Dünger oder Pestiziden verseucht wird, sucht man neues Trinkwasser. Das zahlt nicht die Landwirtschaft. Entsprechend ist es auch bei weiteren Dienstleistungen, die uns die Natur anbietet: Intakter Boden, vorhandene Bestäuber und Insekten, die Schädlinge kurzhalten. Jedenfalls ist die Zeit vorbei, zu sagen, all das gehe die Landwirtschaft nichts an.

Wer soll denn dieses Geld erhalten?

Wer die entsprechenden Leistungen erbringt. Gegenwärtig bestehen die landwirtschaftlichen Subventionen vor allem aus Direktzahlungen, oder sie unterstützen Produkte. Das heisst, sie sind nicht an Leistungen gebunden. Anders gesagt: Der Steuerzahler darf zwar zahlen, hat aber nichts zu sagen, was mit dem Geld passiert. Die Gegner der Biodiversitätsinitiative warnen in düsteren Szenarien vor den stärker geschützten Flächen. Dort sei kaum eine Entwicklung mehr möglich. Ist das korrekt?

Wenn mit Entwicklung Bauboom gemeint ist, so ist das korrekt. Wir haben zwar ein Raumplanungsgesetz, aber offensichtlich greift es zu wenig. Im Konkreten obsiegt auch hier zu häufig das private Interesse gegenüber dem öffentlichen. Die Biodiversitätsinitiative fordert, dass Ortsbilder und das baukulturelle Erbe besser geschützt werden sollen. Würde eine Annahme der Initiative dazu führen, dass die geforderte Verdichtung nach innen schwieriger zu realisieren wäre? Die Annahme der Initiative würde vor allem bewirken, dass die Bauentwicklung nach aussen besser gebremst und das bestehende Bauland besser ausgenützt wird. Beim baukulturellen Erbe würden klarere Verhältnisse herrschen: Wenn man ein geschütztes Gebäude kauft, wüsste man bereits im Voraus, dass es nicht irgendwie doch durch ein Spekulationsobjekt ersetzt werden kann.

Wie ist es um den Zusammenhang zwischen der Biodiversitätsinitiative und den erneuerbaren Energien bestellt? Ein Windrad in einem Moor aufzustellen, wäre wohl keine gute Idee. Die Diskussion um die grossen Wind- und Solaranlagen findet (endlich) auf einer anderen Ebene statt: Man hat eingesehen, dass dafür eine schweizweite, übergreifende Planung nötig ist. Es genügt nicht mehr, zu sagen, wir haben in Zukunft zu wenig Strom. Man muss auch zeigen, was die Anlage zur Problemlösung beiträgt. Es macht zum Beispiel wenig Sinn, im Wallis solche Anlagen zu bauen, bevor die Leitungen in die «Üsserschwiiz» existieren oder zumindest geplant sind. Oder wenn in einer Gemeinde der Vogelzug durchgeht, ist es für die Biodiversität bes-ser, wenn die Anlage in die Nachbargemeinde zu stehen kommt. Die Gegner der Initiative widersprechen der Wissenschaft und leugnen den schlechten Zustand der Biodiversität. Wie gehen Sie mit Falschaussagen der Gegner um? Hier geht es um Unterscheidung von Tatsachen und Meinungen. Die Gegner widersprechen gar nicht der Wissenschaft. Sie bewerten wissenschaftliche Resultate anders als die Befürworter. Beispiele für Fakten aus der Wissenschaft: Die Insektendichte hat abgenommen. Die Moore von nationaler Bedeutung ha-ben die Fläche behalten, aber ihre Qualität hat abgenommen. Rote Listen: Der Anteil der Arten, die gemäss den IUCN-Kriterien bedroht sind, hat zugenommen. Beispiele für Bewertung: Landwirtschaftsvertreter: «Wir haben kein Diversitätsproblem.» Die wirtschaftlichen Interessen gehen vor. Naturwissenschaftler: «Wir sehen dringenden Handlungsbedarf. » Und vergessen wir dabei nicht unsere Kinder und Enkel: Sie sind uns dankbar, wenn wir ihnen nicht nur «erhebliche Sachwerte», sondern auch Natur und Landschaft vererben.

erhebliche Sachwerte›, sondern auch Natur und Landschaft vererben.» Foto: zvg

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