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«Ein reiner Bürojob wäre mir zu langweilig»

«Ein reiner Bürojob wäre mir zu langweilig» «Ein reiner Bürojob wäre mir zu langweilig»

Es ist Montagmorgen um halb zehn, eine Zeit, da die meisten erwerbstätigen Menschen bereits seit ein, zwei Stunden an der Büez sind. Für Martina Steiner hat der Arbeitstag im Wohnheim Flora eben erst begonnen: Der Dienst der Sozialbegleiterin dauert heute von 9.30 Uhr bis 18 Uhr.

In dem über hundert Jahre alten Haus Flora an der Ecke Benziger-/ Gutenbergstrasse und im Haus Sonneck gleich nebenan leben zwanzig erwachsene Personen, die wegen unterschiedlichen psychischen Beeinträchtigungen im Alltag nicht alleine bestehen können. Die unterirdisch verbundenen Häuser sind eine von drei Wohnheim-Einrichtungen, die von der Stiftung Phönix Schwyz im Kanton betrieben werden. Menschen in Krisensituationen finden dort in einem familiären Rahmen vorübergehend oder dauerhaft ein betreutes Zuhause sowie strukturierte Tagesund Freizeitangebote. «Etwas Soziales» auf dem zweiten Bildungsweg Martina Steiner arbeitet seit 2018 im Flora. Nach ihrer ers-ten Ausbildung als Bahnbetriebsdisponentin bei den SBB wuchs in ihr zunehmend das Bedürfnis, «etwas Soziales» zu machen. Diesen Plan schob sie jedoch auf, weil sie mit 23 Jahren Mutter wurde. Um die vierzig schliesslich setzte sie ihren lang gehegten Wunsch in die Tat um und liess sich zur Sozialbegleiterin mit eidgenössischem Fachausweis (FA) ausbilden.

Montags um halb zehn herrscht im Haus Flora rege Betriebsamkeit. Bewohnerinnen und Bewohner tummeln sich im Eingangsbereich, unterhalten sich oder ersuchen die Betreuerinnen und Betreuer um Rat für dies und das. Martina Steiner trifft sich nach der allgemeinen Begrüssung mit ihrer Kollegin Melanie Hirsch im Büro: «Melanie informiert mich nach ihrer Frühschicht darüber, was in der Nacht im Haus los war, was ansteht und ob es akute Krisen zu lösen gibt.» Die Menschen, die im Wohnheim Flora leben, sind in einer psychisch instabilen Lebensphase. Die einen bleiben nur wenige Wochen, bis sie in ihr gewohntes Umfeld zurückkehren können. Für andere ist das Wohnheim seit mehr als 25 Jahren ihr festes Zuhause.

Das pralle Leben

Martina Steiner liebt ihre Arbeit im konstanten Team des Wohnheims. Menschen mit vielfältigen Fähigkeiten und Befindlichkeiten zu unterstützen und zu begleiten, nie zu wissen, was der Tag für Überraschungen bringt, schätzt sie sehr: «Ein klassischer Bürojob wäre vielleicht geregelter, aber viel langweiliger», lacht sie und ergänzt: «Hier findet das pralle Leben statt.» Während die beiden Kolleginnen im Büro sitzen und den Tag besprechen, klopft eine Bewohnerin an und bittet um einen Ausdruck ihrer Patientenverfügung, die sie für einen Arztbesuch benötigt. Nebst solchen administrativen Dienstleistungen sind die Betreuungspersonen unter anderem auch für die Verabreichung der Medikamente zuständig. Zu den weiteren Aufgaben gehört die Erstellung des Ämtli-Plans: Die Bewohnerinnen und Bewohner übernehmen nach Möglichkeit eine Aufgabe in der Wohngemeinschaft. So wird abwechslungsweise geputzt, gewaschen und aufgeräumt; wenn nötig werden sie dabei von den Betreuenden unterstützt und motiviert: «Wir arbeiten ressourcenorientiert», erklärt Martina Steiner. Massgebend ist, was ein Mensch noch tun kann, und nicht, was er nicht mehr kann. Die Grenze zwischen Fordern und Überfordern ist bei psychisch beeinträchtigten Menschen manchmal eine schmale Gratwanderung. Aber auch mit anspruchsvollen Situationen weiss die Sozialbegleiterin umzugehen. Sie schätzt die Bandbreite der Emotionen, mit denen sie im Flora konfrontiert ist, und hat gelernt, schwierige Gespräche zielorientiert zu führen.

Vorbereitungen im Atelier 10.20 Uhr: Nach dem Update im Büro gehts hinunter ins Atelier, denn am Montag ist Martina Steiner für die nachmittägliche Beschäftigung zuständig. Bastelarbeiten und Bilder zeugen von der Kreativität der Bewohnerinnen und Bewohner. Nach dem Rundgang durch die Räumlichkeiten legt die Sozialbegleiterin Utensilien zum Malen und Basteln bereit. Sie plant, Mitbringsel für den Tag der offenen Tür des neuen Wohnheims an der Kronenstrasse zu kreieren. Für einen Prototyp bemalt sie ein Tontöpfchen mit gelber Farbe, als eine Bewohnerin ins Atelier kommt, um im Nebenraum zu staubsaugen. Gemeinsam beratschlagen die Frauen, wie viele Farbschichten wohl nötig sind, und die Bewohnerin rät zu einer weissen Grundierung. Ein Tipp, der sich als goldrichtig herausstellt.

Vor dem Mittag tauscht sich das Team nochmals kurz aus. Nachdem auch die E-Mails gecheckt sind, gehts in den Essraum, wo alle schon auf das Mittagessen warten. In der Küche nebenan ist die «Köchin» zugange: Die langjährige Bewohnerin hat im Flora ihr Talent zum Kochen entdeckt – ein Glücksfall für sie selbst und das Wohnheim. Sie erzählt fröhlich von ihrer heutigen Einkaufstour und der vergeblichen Suche nach der benötigten Menge Doppelrahm. Es stellt sich heraus: Der Kartoffelgratin mit Hackfleisch schmeckt auch mit Mascarpone vorzüglich. Die Mittagszeit ist Arbeitszeit

12.10 Uhr: Das Mittagessen geht ruhig vonstatten, das Menü schmeckt allen. Die Mittagszeit gilt bei Martina Steiners heutigem Dienst als Arbeitszeit, weil sie beim Anrichten und Aufräumen mithilft und auch während des Essens Betreuungspflichten wahrnimmt.

13.00 Uhr: Im Büro findet sich das ganze Betreuungsteam des heutigen Montags zum täglichen Rapport ein. Beim Austausch über das Befinden jeder einzelnen Person, über Vorkommnisse und Termine ist auch Heimleiter Daniel Berli dabei. Um 13.35 Uhr ist die speditive Sitzung beendet, der Nachmittag beginnt.

Das Prinzip der Selbstbestimmung Um 14 Uhr treffen die Teilnehmerinnen des Kreativprogramms im Atelier ein, darunter auch zwei «externe» Frauen. Sie leben selbständig, nutzen aber das Beschäftigungsangebot zur Strukturierung ihres Alltags und zum Beisammensein am Basteltisch. Sobald Martina Steiner die beiden instruiert hat, greifen sie zu Farbe und Pinsel und beginnen sich zu unterhalten. «Es ist alles parat, wenn wir kommen, niemand wird gehetzt», schwärmt die eine Dame, während sie zielstrebig die bereitgestellten Töpfchen bepinselt. Eine stationäre Bewohnerin widmet sich im Hintergrund ihrem persönlichen kreativen Projekt. «Früher war das Programm strikt, wenn Malen auf dem Plan stand, mussten alle malen», erzählt Martina Steiner. Heute nimmt man im Flora auf die individuellen Bedürfnisse Rücksicht. Wenn eine Person lieber strickt als malt, soll sie dies tun; es gilt so weit als möglich das Prinzip der Selbstbestimmung.

Um 15.15 Uhr gibt es eine zwanzigminütige Pause, danach wird bis um 16.50 Uhr weitergearbeitet. Nachdem das Atelier aufgeräumt ist, widmet sich Martina Steiner um 17 Uhr administrativen Arbeiten im Büro. Zum Abschluss ihres Arbeitstages führt sie ein längeres Gespräch mit einer Bewohnerin; denn die Betreuung, Begleitung und Förderung funktioniert im Flora nach dem Bezugspersonensystem: Jeder Bewohnerin, jedem Bewohner wird eine persönliche Bezugsperson aus dem Betreuungsteam zugewiesen. Martina Steiner ist zurzeit persönliche Ansprechpartnerin für zwei Personen im Haus. Nach getaner Arbeit freut sich die Sozialbegleiterin auf einen feierabendlichen Coiffeurbesuch inklusive entspannender Kopfmassage.


Martina Steiner ist auch über Mittag im Dienst als Betreuerin.

Vorbereitungen im Atelier für die kreative Beschäftigung am Nachmittag.

Sozialbegleiterin Martina Steiner präsentiert Bilder der Bewohnerinnen und Bewohner des Wohnheims Flora. Fotos: Gina Graber

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