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Chance oder Ausbeutung?

Chance oder Ausbeutung? Chance oder Ausbeutung?

Spezifische Führung in der aktuellen Ausstellung «Arbeitende Kinder im 19. und 20. Jahrhundert»

Was früher normal war, hinterlässt heute ambivalente Gefühle: arbeitende Kinder. Dieses Thema, unter anderem mit Fokus «Fromme Industrie, arbeitende Kinder im Benziger Verlag Einsiedeln», beleuchtete der Historiker Heinz Nauer in seiner Führung im Forum der Schweizer Geschichte.

Bemerkenswert, dass der Titel der aktuellen Ausstellung im Forum der Schweizer Geschichte in Schwyz «Arbeitende Kinder im 19. und 20. Jahrhundert» und nicht «Kinderarbeit im 19. und 20. Jahrhundert» laute, meinte der Einsiedler Historiker Heinz Nauer zum Einstieg in seine spezielle Führung. Vor erfreulich zahlreich erschienenen Zuhörern bekräftigte er seine Aussage, dass damit diese Ausstellung nicht werte, sondern dies der historische Normalfall gewesen sei. In der Landwirtschaft, aus der er selber auch stamme, seien ja die Kinder immer noch in die Arbeit involviert. So sei nicht auszumachen, ob das ausgestellte Kinderbügeleisen, aber beispielsweise auch ein Kinderrechen oder eine -gabel, Spielzeuge oder Werkzeuge waren oder sind. Auf alle Fälle werde man auf diese Weise auch heute noch spielerisch an die Arbeit herangeführt. So galt auch seit Anfang des 19. Jahrhunderts, als immer mehr und intensiver gearbeitet wurde, vielerorts die Einstellung: Ein arbeitsames Leben ist ein gutes Leben.

Benziger – Motor der regionalen Entwicklung Nach dieser allgemeinen Einführung legte der 40-jährige in Egg aufgewachsenen Historiker seinen Fokus auf die sogenannte «Fromme Industrie, arbeitende Kinder im Benziger Verlag Einsiedeln», wie die Einladung zu dieser spezifischen, 50-minütigen Führung am vergangenen Sonntagmorgen gelautet hatte. Übrigens hat er mit seiner Publikation mit dem gleich beginnenden Titel «Fromme Industrie» und der Ergänzung «Der Benziger Verlag Einsiedeln 1750– 1970» im Jahr 2017 auch doktoriert.

Nach einem geschichtlichen Abriss zu diesem einst bedeutenden Verlag – basierend auf der Produktion katholischer Erzeugnisse wie Devotionalien, Rosenkränze, Bücher, Heiligenbilder … – und grössten Arbeitgeber, den Einsiedeln je hatte und der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch international, vor allem in den Vereinigten Staaten, äusserst erfolgreich agierte und entsprechend viele Angestellte brauchte, ging Heinz Nauer konkret aufs Thema arbeitende Kinder ein.

Mit spannenden, originalen Textstellen, von ihm selber in der damaligen Sprache vorgelesen, liess er das Publikum in diese Zeit vor über 150 Jahren eintauchen und es damit authentisch erfahren, nach welchen Kriterien Knaben für die Arbeit in amerikanischen Benziger Betrieben ausgewählt wurden. Aber auch wie Zwölf- bis Vierzehnjährige in Einsiedeln Heiligenbildchen kolorierten, haben sich doch diese farbig besser verkaufen las-sen. Ja, das Waisenhaus auf dem Katzenstrick, damals Maria End geheissen, wurde gar zu einer sogenannten Kolorieranstalt, welche die Einnahmequelle für dieses Haus bildete. «Nur Bildung ist gefährlich»

Die Kinder waren erst besser geschützt, als die Schulpflicht obligatorisch wurde und 1877 das Fabrikgesetz den unter Vierzehnjährigen die Arbeit verbot, was beim Benziger Verlag keinen Anklang fand, ja er fast logischerweise gegen dieses Gesetz war. Eine grosse Rolle bei der Reformation des Schulwesens habe dabei der Einsiedler Pater Gall Morell gespielt, wie der Historiker ausführte. Oder dass Beruf von «beruft» komme und nur Bildung ohne Arbeit gefährlich sei, wie er mit spannenden und völlig unterschiedlichen Textausschnitten die Besucher zum Nachdenken anregte. Ihm selber sei erst mit der intensiven Auseinandersetzung mit diesem Thema bewusst geworden, dass die Arbeit im Leben eine zentrale Rolle gespielt habe oder wie er zitierte: «Ohne deine Arbeit bist du nichts auf dieser (oder jener) Welt.» Für ihn persönlich ist der schwierigste Teil dieser Ausstellung und damit klare Ausbeutung das dunkle Kapitel mit den Fremdplatzierungen oder jene der Spazzacamini, der Tessiner Knaben, welche als lebendige Kaminfeger in oberitalienischen Städten ein schreckliches Schicksal hatten, aber auch die traurige Geschichte mit dem Waisenhaus in Einsiedeln.

Wenn Heinz Nauer auch sehr sachlich und neutral erzählte, viele interessante und eingängige Informationen gab und dabei ebenfalls nie wertete, so waren doch seine Meinung und seine Betroffenheit zu gewissen Aspekten dieses Themas spürbar. Nicht zuletzt auch, weil er mit Fingerspitzengefühl auf Fragen der interessierten Besucher einging und wohl mit seiner angenehmen Art und seiner besonderen Führung einen sehr positiven Eindruck bei ihnen hinterliess.

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